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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Beirut.

Ernst und imposant ragen die Hochwarten Syriens aus den
mächtigen Gebirgsmassen des Libanon und Antilibanon empor und
schon von weiter Ferne her erblickt sie der ankommende Seefahrer,
wie die vom fernen Osten über die gelbe schweigsame Wüste daher
wandernde Karawane.

Die Grossartigkeit der Gebirgswelt, die ungeheuere Meerestiefe
zu ihren Füssen; der schroffe Wechsel zwischen trostloser Wildniss
und blumenbesäeten Paradiesen, zwischen fruchtbaren, von Flüssen
durchzogenen Thälern und wasserlosen Steinwüsten, wo, um mit
Wilbrandt zu empfinden, nur Adler kreisen und geräuschlos in der
meeresblauen Ferne unsichtbaren Ufern zuschweben; diese und andere
Gegensätze, die Syrien verschwenderisch bietet, wären bedeutend genug,
jeden Denkenden zu fesseln.

Aber zwei gewaltige Momente vereinigen sich überdies, die
ganze Glut tiefer Empfindungen in unserer Seele anzufachen. Das
syrische Land ist Stammsitz einer in unmessbare Zeitfernen reichenden
Culturwelt und war Schauplatz des weltbewegenden Ereignisses des
Erscheinens Jesus von Nazareth.

Wie dem Astronomen die irdischen Masseinheiten nicht mehr
ausreichen, um die Werthe der kosmischen Entfernungen darzustellen
und Sonnenweiten sein Grundmass bilden, ebenso müsste der Historiker
in der Geschichte Syriens das gewöhnliche Zeitmass bei Seite legen und
nach Jahrtausenden rechnen, nicht mehr Generationen des Individuums,
sondern Völkergenerationen zur Darstellung bringen, vorausgesetzt,
dass es jemals gelänge, deren Folgeschaft zu erforschen.

So weit in unfassbare Zeiträume reicht hier das Culturleben
zurück, dass die Glanzstätten der altgriechischen, punischen und
römischen Macht ihr gegenüber als Schöpfungen neuerer Zeit erscheinen,
denn Milliarden von Einzelschicksalen hatten sich auf asiatischem

Beirut.

Ernst und imposant ragen die Hochwarten Syriens aus den
mächtigen Gebirgsmassen des Libanon und Antilibanon empor und
schon von weiter Ferne her erblickt sie der ankommende Seefahrer,
wie die vom fernen Osten über die gelbe schweigsame Wüste daher
wandernde Karawane.

Die Grossartigkeit der Gebirgswelt, die ungeheuere Meerestiefe
zu ihren Füssen; der schroffe Wechsel zwischen trostloser Wildniss
und blumenbesäeten Paradiesen, zwischen fruchtbaren, von Flüssen
durchzogenen Thälern und wasserlosen Steinwüsten, wo, um mit
Wilbrandt zu empfinden, nur Adler kreisen und geräuschlos in der
meeresblauen Ferne unsichtbaren Ufern zuschweben; diese und andere
Gegensätze, die Syrien verschwenderisch bietet, wären bedeutend genug,
jeden Denkenden zu fesseln.

Aber zwei gewaltige Momente vereinigen sich überdies, die
ganze Glut tiefer Empfindungen in unserer Seele anzufachen. Das
syrische Land ist Stammsitz einer in unmessbare Zeitfernen reichenden
Culturwelt und war Schauplatz des weltbewegenden Ereignisses des
Erscheinens Jesus von Nazareth.

Wie dem Astronomen die irdischen Masseinheiten nicht mehr
ausreichen, um die Werthe der kosmischen Entfernungen darzustellen
und Sonnenweiten sein Grundmass bilden, ebenso müsste der Historiker
in der Geschichte Syriens das gewöhnliche Zeitmass bei Seite legen und
nach Jahrtausenden rechnen, nicht mehr Generationen des Individuums,
sondern Völkergenerationen zur Darstellung bringen, vorausgesetzt,
dass es jemals gelänge, deren Folgeschaft zu erforschen.

So weit in unfassbare Zeiträume reicht hier das Culturleben
zurück, dass die Glanzstätten der altgriechischen, punischen und
römischen Macht ihr gegenüber als Schöpfungen neuerer Zeit erscheinen,
denn Milliarden von Einzelschicksalen hatten sich auf asiatischem

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[[229]/0249] Beirut. Ernst und imposant ragen die Hochwarten Syriens aus den mächtigen Gebirgsmassen des Libanon und Antilibanon empor und schon von weiter Ferne her erblickt sie der ankommende Seefahrer, wie die vom fernen Osten über die gelbe schweigsame Wüste daher wandernde Karawane. Die Grossartigkeit der Gebirgswelt, die ungeheuere Meerestiefe zu ihren Füssen; der schroffe Wechsel zwischen trostloser Wildniss und blumenbesäeten Paradiesen, zwischen fruchtbaren, von Flüssen durchzogenen Thälern und wasserlosen Steinwüsten, wo, um mit Wilbrandt zu empfinden, nur Adler kreisen und geräuschlos in der meeresblauen Ferne unsichtbaren Ufern zuschweben; diese und andere Gegensätze, die Syrien verschwenderisch bietet, wären bedeutend genug, jeden Denkenden zu fesseln. Aber zwei gewaltige Momente vereinigen sich überdies, die ganze Glut tiefer Empfindungen in unserer Seele anzufachen. Das syrische Land ist Stammsitz einer in unmessbare Zeitfernen reichenden Culturwelt und war Schauplatz des weltbewegenden Ereignisses des Erscheinens Jesus von Nazareth. Wie dem Astronomen die irdischen Masseinheiten nicht mehr ausreichen, um die Werthe der kosmischen Entfernungen darzustellen und Sonnenweiten sein Grundmass bilden, ebenso müsste der Historiker in der Geschichte Syriens das gewöhnliche Zeitmass bei Seite legen und nach Jahrtausenden rechnen, nicht mehr Generationen des Individuums, sondern Völkergenerationen zur Darstellung bringen, vorausgesetzt, dass es jemals gelänge, deren Folgeschaft zu erforschen. So weit in unfassbare Zeiträume reicht hier das Culturleben zurück, dass die Glanzstätten der altgriechischen, punischen und römischen Macht ihr gegenüber als Schöpfungen neuerer Zeit erscheinen, denn Milliarden von Einzelschicksalen hatten sich auf asiatischem

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. [229]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/249>, abgerufen am 21.11.2024.