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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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I. Abschnitt. I. Fragment.
"Schrift die Geschichte der Erde; ja jeder abgerundete Kiesel, den das Weltmeer auswirft, wür-
"de sie einer Seele erzählen, die so an ihn angekettet würde, wie die unsrige an unser Gehirn. Also
"wird ja wohl der innere Mensch auf dem äußern abgedruckt seyn? Auf dem Gesichte, von dem
"wir hier hauptsächlich reden wollen, werden Zeichen und Spuren unserer Gedanken, Neigungen
"und Fähigkeiten anzutreffen seyn? Wie deutlich sind nicht die Zeichen, die Clima und Hand-
"thierung dem Körper eindrücken? Und was ist Clima und Handthierung gegen die immer wirken-
"de Seele, die in jedem Fiber lebt und schafft? An dieser absoluten Lesbarkeit von allem in allem
"zweifelt niemand." -- (Seite 4.)

Von allen Menschen, aber nicht von dem Verfasser dieser so vortrefflich wahren, so vor-
trefflich gesagten Stelle -- hätt' ich zugleich folgende Aeußerung erwartet.

"Allein, ruft der Physiognome, was? Neutons Seele sollte in dem Kopf eines Negers
"sitzen können? Eines Engels Seele in einem scheußlichen Körper?" --

"Seichter Strom jugendlicher Deklamation!"

Folgende Stelle -- "Talente und überhaupt die Gaben des Geistes haben keine Zeichen
"in den festen Theilen des Kopfes." --

Sich selbst und der Natur widersprechenders hab' ich in meinem Leben noch nichts gesehen,
wie dieß. --

"Wenn eine Erbse in die mittelländische See geschossen wird, so könnte ein schärferes Auge,
"als das unsrige, aber noch unendlich stumpfer, als das Auge dessen, der alles sieht, die Wirkung
"davon auf der chinesischen Küste verspüren?" -- sind unsers Verfassers Worte, --

Und die ganze lebendige Totalkraft der "Seele, die sich in jedem Fiber regt und schafft" --
diese sollte auf die festen Theile, diese Gränzen ihrer Wirksamkeit, diese festen Theile, die erst weich
waren, und auf die jeder bewegte Muskel wirkte -- die festen Theile, die sich in keinem Menschen-
körper ähnlich, und gerade so mannichfaltig sind, als die Charakter und Talente, so gewiß verschie-
den, als die weichen Theile der Menschen -- auf diese soll die ganze Totalkraft der Seele -- keinen
bestimmenden Einfluß haben? oder durch diese nicht bestimmt werden?

Doch, damit man uns nicht wieder, statt Thatsachen, statt Erfahrungsgründen -- von ei-
nem seichten Strom jugendlicher Deklamation vordeklamire; --

Laßt

I. Abſchnitt. I. Fragment.
„Schrift die Geſchichte der Erde; ja jeder abgerundete Kieſel, den das Weltmeer auswirft, wuͤr-
„de ſie einer Seele erzaͤhlen, die ſo an ihn angekettet wuͤrde, wie die unſrige an unſer Gehirn. Alſo
„wird ja wohl der innere Menſch auf dem aͤußern abgedruckt ſeyn? Auf dem Geſichte, von dem
„wir hier hauptſaͤchlich reden wollen, werden Zeichen und Spuren unſerer Gedanken, Neigungen
„und Faͤhigkeiten anzutreffen ſeyn? Wie deutlich ſind nicht die Zeichen, die Clima und Hand-
„thierung dem Koͤrper eindruͤcken? Und was iſt Clima und Handthierung gegen die immer wirken-
„de Seele, die in jedem Fiber lebt und ſchafft? An dieſer abſoluten Lesbarkeit von allem in allem
„zweifelt niemand.“ — (Seite 4.)

Von allen Menſchen, aber nicht von dem Verfaſſer dieſer ſo vortrefflich wahren, ſo vor-
trefflich geſagten Stelle — haͤtt’ ich zugleich folgende Aeußerung erwartet.

„Allein, ruft der Phyſiognome, was? Neutons Seele ſollte in dem Kopf eines Negers
„ſitzen koͤnnen? Eines Engels Seele in einem ſcheußlichen Koͤrper?“ —

„Seichter Strom jugendlicher Deklamation!“

Folgende Stelle — „Talente und uͤberhaupt die Gaben des Geiſtes haben keine Zeichen
„in den feſten Theilen des Kopfes.“ —

Sich ſelbſt und der Natur widerſprechenders hab’ ich in meinem Leben noch nichts geſehen,
wie dieß. —

„Wenn eine Erbſe in die mittellaͤndiſche See geſchoſſen wird, ſo koͤnnte ein ſchaͤrferes Auge,
„als das unſrige, aber noch unendlich ſtumpfer, als das Auge deſſen, der alles ſieht, die Wirkung
„davon auf der chineſiſchen Kuͤſte verſpuͤren?“ — ſind unſers Verfaſſers Worte, —

Und die ganze lebendige Totalkraft der „Seele, die ſich in jedem Fiber regt und ſchafft“ —
dieſe ſollte auf die feſten Theile, dieſe Graͤnzen ihrer Wirkſamkeit, dieſe feſten Theile, die erſt weich
waren, und auf die jeder bewegte Muskel wirkte — die feſten Theile, die ſich in keinem Menſchen-
koͤrper aͤhnlich, und gerade ſo mannichfaltig ſind, als die Charakter und Talente, ſo gewiß verſchie-
den, als die weichen Theile der Menſchen — auf dieſe ſoll die ganze Totalkraft der Seele — keinen
beſtimmenden Einfluß haben? oder durch dieſe nicht beſtimmt werden?

Doch, damit man uns nicht wieder, ſtatt Thatſachen, ſtatt Erfahrungsgruͤnden — von ei-
nem ſeichten Strom jugendlicher Deklamation vordeklamire; —

Laßt
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[8/0024] I. Abſchnitt. I. Fragment. „Schrift die Geſchichte der Erde; ja jeder abgerundete Kieſel, den das Weltmeer auswirft, wuͤr- „de ſie einer Seele erzaͤhlen, die ſo an ihn angekettet wuͤrde, wie die unſrige an unſer Gehirn. Alſo „wird ja wohl der innere Menſch auf dem aͤußern abgedruckt ſeyn? Auf dem Geſichte, von dem „wir hier hauptſaͤchlich reden wollen, werden Zeichen und Spuren unſerer Gedanken, Neigungen „und Faͤhigkeiten anzutreffen ſeyn? Wie deutlich ſind nicht die Zeichen, die Clima und Hand- „thierung dem Koͤrper eindruͤcken? Und was iſt Clima und Handthierung gegen die immer wirken- „de Seele, die in jedem Fiber lebt und ſchafft? An dieſer abſoluten Lesbarkeit von allem in allem „zweifelt niemand.“ — (Seite 4.) Von allen Menſchen, aber nicht von dem Verfaſſer dieſer ſo vortrefflich wahren, ſo vor- trefflich geſagten Stelle — haͤtt’ ich zugleich folgende Aeußerung erwartet. „Allein, ruft der Phyſiognome, was? Neutons Seele ſollte in dem Kopf eines Negers „ſitzen koͤnnen? Eines Engels Seele in einem ſcheußlichen Koͤrper?“ — „Seichter Strom jugendlicher Deklamation!“ Folgende Stelle — „Talente und uͤberhaupt die Gaben des Geiſtes haben keine Zeichen „in den feſten Theilen des Kopfes.“ — Sich ſelbſt und der Natur widerſprechenders hab’ ich in meinem Leben noch nichts geſehen, wie dieß. — „Wenn eine Erbſe in die mittellaͤndiſche See geſchoſſen wird, ſo koͤnnte ein ſchaͤrferes Auge, „als das unſrige, aber noch unendlich ſtumpfer, als das Auge deſſen, der alles ſieht, die Wirkung „davon auf der chineſiſchen Kuͤſte verſpuͤren?“ — ſind unſers Verfaſſers Worte, — Und die ganze lebendige Totalkraft der „Seele, die ſich in jedem Fiber regt und ſchafft“ — dieſe ſollte auf die feſten Theile, dieſe Graͤnzen ihrer Wirkſamkeit, dieſe feſten Theile, die erſt weich waren, und auf die jeder bewegte Muskel wirkte — die feſten Theile, die ſich in keinem Menſchen- koͤrper aͤhnlich, und gerade ſo mannichfaltig ſind, als die Charakter und Talente, ſo gewiß verſchie- den, als die weichen Theile der Menſchen — auf dieſe ſoll die ganze Totalkraft der Seele — keinen beſtimmenden Einfluß haben? oder durch dieſe nicht beſtimmt werden? Doch, damit man uns nicht wieder, ſtatt Thatſachen, ſtatt Erfahrungsgruͤnden — von ei- nem ſeichten Strom jugendlicher Deklamation vordeklamire; — Laßt

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/24>, abgerufen am 26.04.2024.