Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
Allerley dieß Werk Betreffendes.


Der Mahler und Zeichner sollte lernen können, sich weniger an Gott und Menschheit zu versündigen
durch Verunstaltung der Formen und Züge, die ihm erscheinen, und die er fest halten will.



Leser! lies und prüfe! verwirf und nimm an mit freyem, ungebundenem Sinn, wie ichs empfieng
und gab. Verfehlte ich meines Zwecks, vergieb, und denk an meine Lage! -- Genug, wenn du, wo nicht alle-
mal,
doch sehr oft, gelernt hast, Gottes Handschrift wenigstens auf einigen der besten Menschengesichter le-
sen, und oft bisweilen anschauend erkennest -- plus esse in uno saepe quam in turba boni.

Du hast mich nicht gelesen, wenn du dich durch mein Werk berechtigt hältst, sogleich über jedes dir
vorkommende Gesicht abzusprechen.

Jtzt am Ende einer mühsamen Laufbahn -- habe ich neben täglich steigender Ueberzeugung von der
Wahrheit der Physiognomik wenigstens eben so viel Behutsamkeit im Urtheilen gewonnen. Jtzt muß ich wie-
derholen, was ich beym Anfange sagte -- Es begegnen mir noch täglich hundert Gesichter, von denen ich nichts
zu sagen wüßte, als höchstens was sie nicht sind, und nicht seyn können; aber nicht, was sie sind -- Möchte
dieß Bekenntniß Mißbrauch dieser Fragmente verhüten können!

B. Allerley über dieß Werk.

Die Verschiedenheit des Jnnhalts dieses Werks wird niemanden ärgern, als wen die Verschiedenheit
der Naturprodukte ärgert -- Es wird sich nur fragen: "Jst's dem Titel und Zwecke des Werkes gemäß?



Einen Plan einer vollständigern Physiognomik gedenke ich mit Gottes Willen und Hülfe auch noch
einmal zu entwerfen.



Wenn ich zehn und hundertmal geirret habe, das beweiset nur wider meine physiognomische Einsicht,
nicht wider die Physiognomik.



Viele, ja unzählige eingesandte Silhouetten und Zeichnungen konnte ich, wollte ich nicht brauchen. Jch
schreibe, was ich schreiben kann und will; nicht, was man mich schreiben lassen will. Jch sage, was ich weiß,
und gab niemandem ein Recht, oder einen Anlaß, von mir zu fordern, daß ich alles wissen soll. Auch ohne
das wäre, wenn auch nur ein Zehntheil gebraucht worden wäre, das Werk unermeßlich geworden. Das brauch-
barste davon wird in den physiognomischen Linien, so Gott Leben und Kraft erhält -- benutzt werden.

Jch
P p p 3
Allerley dieß Werk Betreffendes.


Der Mahler und Zeichner ſollte lernen koͤnnen, ſich weniger an Gott und Menſchheit zu verſuͤndigen
durch Verunſtaltung der Formen und Zuͤge, die ihm erſcheinen, und die er feſt halten will.



Leſer! lies und pruͤfe! verwirf und nimm an mit freyem, ungebundenem Sinn, wie ichs empfieng
und gab. Verfehlte ich meines Zwecks, vergieb, und denk an meine Lage! — Genug, wenn du, wo nicht alle-
mal,
doch ſehr oft, gelernt haſt, Gottes Handſchrift wenigſtens auf einigen der beſten Menſchengeſichter le-
ſen, und oft bisweilen anſchauend erkenneſt — plus eſſe in uno ſaepe quam in turba boni.

Du haſt mich nicht geleſen, wenn du dich durch mein Werk berechtigt haͤltſt, ſogleich uͤber jedes dir
vorkommende Geſicht abzuſprechen.

Jtzt am Ende einer muͤhſamen Laufbahn — habe ich neben taͤglich ſteigender Ueberzeugung von der
Wahrheit der Phyſiognomik wenigſtens eben ſo viel Behutſamkeit im Urtheilen gewonnen. Jtzt muß ich wie-
derholen, was ich beym Anfange ſagte — Es begegnen mir noch taͤglich hundert Geſichter, von denen ich nichts
zu ſagen wuͤßte, als hoͤchſtens was ſie nicht ſind, und nicht ſeyn koͤnnen; aber nicht, was ſie ſind — Moͤchte
dieß Bekenntniß Mißbrauch dieſer Fragmente verhuͤten koͤnnen!

B. Allerley uͤber dieß Werk.

Die Verſchiedenheit des Jnnhalts dieſes Werks wird niemanden aͤrgern, als wen die Verſchiedenheit
der Naturprodukte aͤrgert — Es wird ſich nur fragen: „Jſt’s dem Titel und Zwecke des Werkes gemaͤß?



Einen Plan einer vollſtaͤndigern Phyſiognomik gedenke ich mit Gottes Willen und Huͤlfe auch noch
einmal zu entwerfen.



Wenn ich zehn und hundertmal geirret habe, das beweiſet nur wider meine phyſiognomiſche Einſicht,
nicht wider die Phyſiognomik.



Viele, ja unzaͤhlige eingeſandte Silhouetten und Zeichnungen konnte ich, wollte ich nicht brauchen. Jch
ſchreibe, was ich ſchreiben kann und will; nicht, was man mich ſchreiben laſſen will. Jch ſage, was ich weiß,
und gab niemandem ein Recht, oder einen Anlaß, von mir zu fordern, daß ich alles wiſſen ſoll. Auch ohne
das waͤre, wenn auch nur ein Zehntheil gebraucht worden waͤre, das Werk unermeßlich geworden. Das brauch-
barſte davon wird in den phyſiognomiſchen Linien, ſo Gott Leben und Kraft erhaͤlt — benutzt werden.

Jch
P p p 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0629" n="485"/>
              <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Allerley dieß Werk Betreffendes.</hi> </fw><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <p>Der Mahler und Zeichner &#x017F;ollte lernen ko&#x0364;nnen, &#x017F;ich weniger an Gott und Men&#x017F;chheit zu ver&#x017F;u&#x0364;ndigen<lb/>
durch Verun&#x017F;taltung der Formen und Zu&#x0364;ge, die ihm er&#x017F;cheinen, und die er fe&#x017F;t halten will.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <p>Le&#x017F;er! lies und pru&#x0364;fe! verwirf und nimm an mit freyem, ungebundenem Sinn, wie ichs empfieng<lb/>
und gab. Verfehlte ich meines Zwecks, vergieb, und denk an meine Lage! &#x2014; Genug, wenn du, wo nicht <hi rendition="#fr">alle-<lb/>
mal,</hi> doch <hi rendition="#fr">&#x017F;ehr oft,</hi> gelernt ha&#x017F;t, Gottes Hand&#x017F;chrift wenig&#x017F;tens auf einigen der be&#x017F;ten Men&#x017F;chenge&#x017F;ichter le-<lb/>
&#x017F;en, und oft bisweilen an&#x017F;chauend erkenne&#x017F;t &#x2014; <hi rendition="#aq">plus e&#x017F;&#x017F;e in uno &#x017F;aepe quam in turba boni.</hi></p><lb/>
              <p>Du ha&#x017F;t mich nicht gele&#x017F;en, wenn du dich durch mein Werk berechtigt ha&#x0364;lt&#x017F;t, &#x017F;ogleich u&#x0364;ber jedes dir<lb/>
vorkommende Ge&#x017F;icht abzu&#x017F;prechen.</p><lb/>
              <p>Jtzt am Ende einer mu&#x0364;h&#x017F;amen Laufbahn &#x2014; habe ich neben ta&#x0364;glich &#x017F;teigender Ueberzeugung von der<lb/>
Wahrheit der Phy&#x017F;iognomik wenig&#x017F;tens eben &#x017F;o viel Behut&#x017F;amkeit im Urtheilen gewonnen. Jtzt muß ich wie-<lb/>
derholen, was ich beym Anfange &#x017F;agte &#x2014; Es begegnen mir noch ta&#x0364;glich hundert Ge&#x017F;ichter, von denen ich nichts<lb/>
zu &#x017F;agen wu&#x0364;ßte, als ho&#x0364;ch&#x017F;tens was &#x017F;ie nicht &#x017F;ind, und nicht &#x017F;eyn ko&#x0364;nnen; aber nicht, was &#x017F;ie &#x017F;ind &#x2014; Mo&#x0364;chte<lb/>
dieß Bekenntniß Mißbrauch die&#x017F;er Fragmente verhu&#x0364;ten ko&#x0364;nnen!</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">B.</hi> Allerley u&#x0364;ber dieß Werk.</hi> </head><lb/>
              <p>Die Ver&#x017F;chiedenheit des Jnnhalts die&#x017F;es Werks wird niemanden a&#x0364;rgern, als wen die Ver&#x017F;chiedenheit<lb/>
der Naturprodukte a&#x0364;rgert &#x2014; Es wird &#x017F;ich nur fragen: &#x201E;<hi rendition="#fr">J&#x017F;t&#x2019;s dem Titel und Zwecke des Werkes gema&#x0364;ß?</hi></p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <p>Einen Plan einer voll&#x017F;ta&#x0364;ndigern Phy&#x017F;iognomik gedenke ich mit Gottes Willen und Hu&#x0364;lfe auch noch<lb/>
einmal zu entwerfen.</p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <p>Wenn ich zehn und hundertmal geirret habe, das bewei&#x017F;et nur wider <hi rendition="#fr">meine</hi> phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Ein&#x017F;icht,<lb/>
nicht wider die <hi rendition="#fr">Phy&#x017F;iognomik.</hi></p><lb/>
              <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
              <p>Viele, ja unza&#x0364;hlige einge&#x017F;andte Silhouetten und Zeichnungen konnte ich, wollte ich nicht brauchen. Jch<lb/>
&#x017F;chreibe, was ich &#x017F;chreiben kann und will; nicht, was man mich &#x017F;chreiben la&#x017F;&#x017F;en will. Jch &#x017F;age, was ich weiß,<lb/>
und gab niemandem ein Recht, oder einen Anlaß, von mir zu fordern, daß ich alles wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;oll. Auch ohne<lb/>
das wa&#x0364;re, wenn auch nur ein Zehntheil gebraucht worden wa&#x0364;re, das Werk unermeßlich geworden. Das brauch-<lb/>
bar&#x017F;te davon wird in den <hi rendition="#fr">phy&#x017F;iognomi&#x017F;chen Linien,</hi> &#x017F;o Gott Leben und Kraft erha&#x0364;lt &#x2014; benutzt werden.</p><lb/>
              <fw place="bottom" type="sig">P p p 3</fw>
              <fw place="bottom" type="catch">Jch</fw><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[485/0629] Allerley dieß Werk Betreffendes. Der Mahler und Zeichner ſollte lernen koͤnnen, ſich weniger an Gott und Menſchheit zu verſuͤndigen durch Verunſtaltung der Formen und Zuͤge, die ihm erſcheinen, und die er feſt halten will. Leſer! lies und pruͤfe! verwirf und nimm an mit freyem, ungebundenem Sinn, wie ichs empfieng und gab. Verfehlte ich meines Zwecks, vergieb, und denk an meine Lage! — Genug, wenn du, wo nicht alle- mal, doch ſehr oft, gelernt haſt, Gottes Handſchrift wenigſtens auf einigen der beſten Menſchengeſichter le- ſen, und oft bisweilen anſchauend erkenneſt — plus eſſe in uno ſaepe quam in turba boni. Du haſt mich nicht geleſen, wenn du dich durch mein Werk berechtigt haͤltſt, ſogleich uͤber jedes dir vorkommende Geſicht abzuſprechen. Jtzt am Ende einer muͤhſamen Laufbahn — habe ich neben taͤglich ſteigender Ueberzeugung von der Wahrheit der Phyſiognomik wenigſtens eben ſo viel Behutſamkeit im Urtheilen gewonnen. Jtzt muß ich wie- derholen, was ich beym Anfange ſagte — Es begegnen mir noch taͤglich hundert Geſichter, von denen ich nichts zu ſagen wuͤßte, als hoͤchſtens was ſie nicht ſind, und nicht ſeyn koͤnnen; aber nicht, was ſie ſind — Moͤchte dieß Bekenntniß Mißbrauch dieſer Fragmente verhuͤten koͤnnen! B. Allerley uͤber dieß Werk. Die Verſchiedenheit des Jnnhalts dieſes Werks wird niemanden aͤrgern, als wen die Verſchiedenheit der Naturprodukte aͤrgert — Es wird ſich nur fragen: „Jſt’s dem Titel und Zwecke des Werkes gemaͤß? Einen Plan einer vollſtaͤndigern Phyſiognomik gedenke ich mit Gottes Willen und Huͤlfe auch noch einmal zu entwerfen. Wenn ich zehn und hundertmal geirret habe, das beweiſet nur wider meine phyſiognomiſche Einſicht, nicht wider die Phyſiognomik. Viele, ja unzaͤhlige eingeſandte Silhouetten und Zeichnungen konnte ich, wollte ich nicht brauchen. Jch ſchreibe, was ich ſchreiben kann und will; nicht, was man mich ſchreiben laſſen will. Jch ſage, was ich weiß, und gab niemandem ein Recht, oder einen Anlaß, von mir zu fordern, daß ich alles wiſſen ſoll. Auch ohne das waͤre, wenn auch nur ein Zehntheil gebraucht worden waͤre, das Werk unermeßlich geworden. Das brauch- barſte davon wird in den phyſiognomiſchen Linien, ſo Gott Leben und Kraft erhaͤlt — benutzt werden. Jch P p p 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/629
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/629>, abgerufen am 17.11.2024.