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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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X. Abschnitt. VI. Fragment.
und der Wirkung erforschen zu wollen -- Siehe da meine Philosophie, die's immer mehr werden wird, je mehr
mir Gott die Erhabenheit und die Beschränktheit der menschlichen Natur offenbaren wird. Jch lasse jedem das
Seinige. Mir ist nicht mehr gegeben; genug gegeben, um mich alle Tage mehr meines Daseyns, meiner
Menschheit und der Gottheit Gottes über allen Ausdruck zu freuen!

Sechstes Fragment.
Allerley dieß Werk Betreffendes.
A. Gebrauch des Werkes.

Ob es mich nicht oft in der Seele kränken müsse, von meinen bisherigen Bemühungen so selten den Gebrauch,
den ich mir schmeichelte, wahrzunehmen? -- Davon urtheile, wer meines Glaubens, meines Gefühls ist --
Ach! so viele sehen die Kupfer an -- rathen etwa hier und dort -- vergleichen unglücklich dieß oder jenes unbe-
kannte Gesicht mit diesem oder jenem bekannten ... legen das Buch wieder weg -- urtheilen vom Werthe oder
Unwerthe der Zeichnungen und Stiche -- und haben sich schon satt gesehen, satt gelesen -- und so manchen an-
dern ist's nur Veranlassung, Berechtigung, wie sie meynen, zu schelten? zu verläumden?

Alles das sah ich freylich vor -- aber nicht vor sah ich, daß sogar sehr wenige in den Geist der Sache,
ins Jnteresse der Menschheit einzudringen stark und weise und gut genug wären.

Was die gegenwärtige Zeit nicht leistet, will ich von der Zukunft hoffen. Wenn das erste Geräusch,
das dieß Werk veranlaßte, sich gelegt hat; wenn's eine Zeitlang in großen Bibliotheken bestäubt gestanden hat --
dann, hoffe ich, kömmt's in die Hand des stillen Weisen, der's unbefangen lesen und prüfen wird; der auf mein
Zeugniß nichts glauben, aber auch ohne Prüfung nichts verwerfen wird. Jch will nicht gelesen, sondern ge-
prüft, nicht bewundert, sondern widerlegt seyn -- oder wahr befunden. Si vera videntur, dede manus; sin
minus, accingere contra!



Und denn hoffe ich auch das, daß ich wenigstens keinen unwürdigen Ton über eine die Menschheit so
unmittelbar, so tief interessirende Sache angestimmt habe. Dürfte ich mir mit den Gedanken schmeicheln --
wer mich lieset, muß mehr Menschenfreund, als Menschenfeind werden -- Er sieht viel Gutes, das er vorher
nicht sah -- und wo er Böses sieht, ist er veranlaßt, Entschuldigungsgründe zu beherzigen, die er vorher viel-
leicht nicht beherziget hätte.

Der

X. Abſchnitt. VI. Fragment.
und der Wirkung erforſchen zu wollen — Siehe da meine Philoſophie, die’s immer mehr werden wird, je mehr
mir Gott die Erhabenheit und die Beſchraͤnktheit der menſchlichen Natur offenbaren wird. Jch laſſe jedem das
Seinige. Mir iſt nicht mehr gegeben; genug gegeben, um mich alle Tage mehr meines Daſeyns, meiner
Menſchheit und der Gottheit Gottes uͤber allen Ausdruck zu freuen!

Sechstes Fragment.
Allerley dieß Werk Betreffendes.
A. Gebrauch des Werkes.

Ob es mich nicht oft in der Seele kraͤnken muͤſſe, von meinen bisherigen Bemuͤhungen ſo ſelten den Gebrauch,
den ich mir ſchmeichelte, wahrzunehmen? — Davon urtheile, wer meines Glaubens, meines Gefuͤhls iſt —
Ach! ſo viele ſehen die Kupfer an — rathen etwa hier und dort — vergleichen ungluͤcklich dieß oder jenes unbe-
kannte Geſicht mit dieſem oder jenem bekannten ... legen das Buch wieder weg — urtheilen vom Werthe oder
Unwerthe der Zeichnungen und Stiche — und haben ſich ſchon ſatt geſehen, ſatt geleſen — und ſo manchen an-
dern iſt’s nur Veranlaſſung, Berechtigung, wie ſie meynen, zu ſchelten? zu verlaͤumden?

Alles das ſah ich freylich vor — aber nicht vor ſah ich, daß ſogar ſehr wenige in den Geiſt der Sache,
ins Jntereſſe der Menſchheit einzudringen ſtark und weiſe und gut genug waͤren.

Was die gegenwaͤrtige Zeit nicht leiſtet, will ich von der Zukunft hoffen. Wenn das erſte Geraͤuſch,
das dieß Werk veranlaßte, ſich gelegt hat; wenn’s eine Zeitlang in großen Bibliotheken beſtaͤubt geſtanden hat —
dann, hoffe ich, koͤmmt’s in die Hand des ſtillen Weiſen, der’s unbefangen leſen und pruͤfen wird; der auf mein
Zeugniß nichts glauben, aber auch ohne Pruͤfung nichts verwerfen wird. Jch will nicht geleſen, ſondern ge-
pruͤft, nicht bewundert, ſondern widerlegt ſeyn — oder wahr befunden. Si vera videntur, dede manus; ſin
minus, accingere contra!



Und denn hoffe ich auch das, daß ich wenigſtens keinen unwuͤrdigen Ton uͤber eine die Menſchheit ſo
unmittelbar, ſo tief intereſſirende Sache angeſtimmt habe. Duͤrfte ich mir mit den Gedanken ſchmeicheln —
wer mich lieſet, muß mehr Menſchenfreund, als Menſchenfeind werden — Er ſieht viel Gutes, das er vorher
nicht ſah — und wo er Boͤſes ſieht, iſt er veranlaßt, Entſchuldigungsgruͤnde zu beherzigen, die er vorher viel-
leicht nicht beherziget haͤtte.

Der
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[484/0628] X. Abſchnitt. VI. Fragment. und der Wirkung erforſchen zu wollen — Siehe da meine Philoſophie, die’s immer mehr werden wird, je mehr mir Gott die Erhabenheit und die Beſchraͤnktheit der menſchlichen Natur offenbaren wird. Jch laſſe jedem das Seinige. Mir iſt nicht mehr gegeben; genug gegeben, um mich alle Tage mehr meines Daſeyns, meiner Menſchheit und der Gottheit Gottes uͤber allen Ausdruck zu freuen! Sechstes Fragment. Allerley dieß Werk Betreffendes. A. Gebrauch des Werkes. Ob es mich nicht oft in der Seele kraͤnken muͤſſe, von meinen bisherigen Bemuͤhungen ſo ſelten den Gebrauch, den ich mir ſchmeichelte, wahrzunehmen? — Davon urtheile, wer meines Glaubens, meines Gefuͤhls iſt — Ach! ſo viele ſehen die Kupfer an — rathen etwa hier und dort — vergleichen ungluͤcklich dieß oder jenes unbe- kannte Geſicht mit dieſem oder jenem bekannten ... legen das Buch wieder weg — urtheilen vom Werthe oder Unwerthe der Zeichnungen und Stiche — und haben ſich ſchon ſatt geſehen, ſatt geleſen — und ſo manchen an- dern iſt’s nur Veranlaſſung, Berechtigung, wie ſie meynen, zu ſchelten? zu verlaͤumden? Alles das ſah ich freylich vor — aber nicht vor ſah ich, daß ſogar ſehr wenige in den Geiſt der Sache, ins Jntereſſe der Menſchheit einzudringen ſtark und weiſe und gut genug waͤren. Was die gegenwaͤrtige Zeit nicht leiſtet, will ich von der Zukunft hoffen. Wenn das erſte Geraͤuſch, das dieß Werk veranlaßte, ſich gelegt hat; wenn’s eine Zeitlang in großen Bibliotheken beſtaͤubt geſtanden hat — dann, hoffe ich, koͤmmt’s in die Hand des ſtillen Weiſen, der’s unbefangen leſen und pruͤfen wird; der auf mein Zeugniß nichts glauben, aber auch ohne Pruͤfung nichts verwerfen wird. Jch will nicht geleſen, ſondern ge- pruͤft, nicht bewundert, ſondern widerlegt ſeyn — oder wahr befunden. Si vera videntur, dede manus; ſin minus, accingere contra! Und denn hoffe ich auch das, daß ich wenigſtens keinen unwuͤrdigen Ton uͤber eine die Menſchheit ſo unmittelbar, ſo tief intereſſirende Sache angeſtimmt habe. Duͤrfte ich mir mit den Gedanken ſchmeicheln — wer mich lieſet, muß mehr Menſchenfreund, als Menſchenfeind werden — Er ſieht viel Gutes, das er vorher nicht ſah — und wo er Boͤſes ſieht, iſt er veranlaßt, Entſchuldigungsgruͤnde zu beherzigen, die er vorher viel- leicht nicht beherziget haͤtte. Der

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/628>, abgerufen am 17.11.2024.