Erwartung wird dir die Augen öffnen, zu sehen, was niemand sieht -- ehe man's ihm zeigt, und jedermann sieht, sobald man's ihm zeigt.
24.
Und dann laß mich, Mitforscher der Menschheit, die Bitte nochmals wiederholen -- Urtheile we- nig! Wie sehr man in dich dringe, um dich entweder als einen Narren zu verlachen, oder mit Narrenlächeln dich zu bewundern! Weise die indiskreten Jnquisitoren entschlossen und ruhig ab. Du handelst thöricht, wenn du dich thörichten Forderungen Preiß giebst. Wie sehr du's immer sagest -- du könnest dich irren -- Jrrest du einmal, so ist des unbändigen, alle Schaam vergessenden Gelächters eben so viel, als wenn du behauptet hättest: ich irre mich nie.
Beschluß.
Aber so wird denn viel zu einem vernünftigen gründlichen Studium der Physiognomik erfordert?
Ja, lieber Graf, viel! sehr viel! -- Jch weiß es, was es ist, Physiognomie studieren -- und weiß, wie erstaunlich weit ich noch zurück bin. Wem's um Wahrheit, nicht um Schimmer, um Beförde- rung der allgemeinen Glückseligkeit, auch durch physiognomische Wahrheit, zu thun ist -- der wird es nicht so leicht auf sich nehmen, sich mit diesem Studium abzugeben; und ich kann's nicht genug sagen -- Es ist mit einer der Hauptzwecke dieses Werks, eben sowohl von der Physiognomik abzuschrecken, wer nicht Sinn, Fä- higkeit, Muße und Beruf dazu hat; als den zu ermuntern -- wer's hat; und ihm ganz vertraulich und ohn' alle Arkanumsmiene alles, was ich beobachtet habe, und den Weg meiner Beobachtung natürlich und einfältig zu erzählen.
So unvollständig, mein lieber Graf, diese Anweisung immer ist, (kaum jemand kann ihre Unvoll- ständigkeit lebhafter empfinden, als ich) -- ich bin dennoch bis zur völligsten Beruhigung überzeugt, daß der, der mit Geist und Sinn für Wahrheit und Natur sie befolgen wird, Wunder und Geheimnisse in der Menschen Natur überhaupt, und in hundert einzelnen Menschengesichtern entdecken wird, die seinen Fleiß und seine Nach- forschung überschwenglich belohnen werden.
Auch davon bin ich überzeugt, daß er mit jedem Schritte, den er weiter thut, neue Nachsicht und Behutsamkeit lernen wird. Sicherheit und Behutsamkeit werden in gleichem Schritte mit ihm zu seiner Rech- ten und Linken fortschreiten.
Je mehr er auf der einen Seite Gewißheit erlangen wird; desto weniger voreilig wird er auf der andern Seite mit seinen Urtheilen und Entscheidungen seyn. --
Von Jhnen, weiser Menschenfreund, vortrefflicher Zeichner, erwarte ich neue Vorschläge, Räthe, Er- innerungen -- und alles, was die Kenntniß guter und weiser Menschen befördern kann.
Jch
X. Abſchnitt. I. Fragment.
Erwartung wird dir die Augen oͤffnen, zu ſehen, was niemand ſieht — ehe man’s ihm zeigt, und jedermann ſieht, ſobald man’s ihm zeigt.
24.
Und dann laß mich, Mitforſcher der Menſchheit, die Bitte nochmals wiederholen — Urtheile we- nig! Wie ſehr man in dich dringe, um dich entweder als einen Narren zu verlachen, oder mit Narrenlaͤcheln dich zu bewundern! Weiſe die indiskreten Jnquiſitoren entſchloſſen und ruhig ab. Du handelſt thoͤricht, wenn du dich thoͤrichten Forderungen Preiß giebſt. Wie ſehr du’s immer ſageſt — du koͤnneſt dich irren — Jrreſt du einmal, ſo iſt des unbaͤndigen, alle Schaam vergeſſenden Gelaͤchters eben ſo viel, als wenn du behauptet haͤtteſt: ich irre mich nie.
Beſchluß.
Aber ſo wird denn viel zu einem vernuͤnftigen gruͤndlichen Studium der Phyſiognomik erfordert?
Ja, lieber Graf, viel! ſehr viel! — Jch weiß es, was es iſt, Phyſiognomie ſtudieren — und weiß, wie erſtaunlich weit ich noch zuruͤck bin. Wem’s um Wahrheit, nicht um Schimmer, um Befoͤrde- rung der allgemeinen Gluͤckſeligkeit, auch durch phyſiognomiſche Wahrheit, zu thun iſt — der wird es nicht ſo leicht auf ſich nehmen, ſich mit dieſem Studium abzugeben; und ich kann’s nicht genug ſagen — Es iſt mit einer der Hauptzwecke dieſes Werks, eben ſowohl von der Phyſiognomik abzuſchrecken, wer nicht Sinn, Faͤ- higkeit, Muße und Beruf dazu hat; als den zu ermuntern — wer’s hat; und ihm ganz vertraulich und ohn’ alle Arkanumsmiene alles, was ich beobachtet habe, und den Weg meiner Beobachtung natuͤrlich und einfaͤltig zu erzaͤhlen.
So unvollſtaͤndig, mein lieber Graf, dieſe Anweiſung immer iſt, (kaum jemand kann ihre Unvoll- ſtaͤndigkeit lebhafter empfinden, als ich) — ich bin dennoch bis zur voͤlligſten Beruhigung uͤberzeugt, daß der, der mit Geiſt und Sinn fuͤr Wahrheit und Natur ſie befolgen wird, Wunder und Geheimniſſe in der Menſchen Natur uͤberhaupt, und in hundert einzelnen Menſchengeſichtern entdecken wird, die ſeinen Fleiß und ſeine Nach- forſchung uͤberſchwenglich belohnen werden.
Auch davon bin ich uͤberzeugt, daß er mit jedem Schritte, den er weiter thut, neue Nachſicht und Behutſamkeit lernen wird. Sicherheit und Behutſamkeit werden in gleichem Schritte mit ihm zu ſeiner Rech- ten und Linken fortſchreiten.
Je mehr er auf der einen Seite Gewißheit erlangen wird; deſto weniger voreilig wird er auf der andern Seite mit ſeinen Urtheilen und Entſcheidungen ſeyn. —
Von Jhnen, weiſer Menſchenfreund, vortrefflicher Zeichner, erwarte ich neue Vorſchlaͤge, Raͤthe, Er- innerungen — und alles, was die Kenntniß guter und weiſer Menſchen befoͤrdern kann.
Jch
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X. Abſchnitt. I. Fragment.
Erwartung wird dir die Augen oͤffnen, zu ſehen, was niemand ſieht — ehe man’s ihm zeigt, und jedermann
ſieht, ſobald man’s ihm zeigt.
24.
Und dann laß mich, Mitforſcher der Menſchheit, die Bitte nochmals wiederholen — Urtheile we-
nig! Wie ſehr man in dich dringe, um dich entweder als einen Narren zu verlachen, oder mit Narrenlaͤcheln
dich zu bewundern! Weiſe die indiskreten Jnquiſitoren entſchloſſen und ruhig ab. Du handelſt thoͤricht, wenn
du dich thoͤrichten Forderungen Preiß giebſt. Wie ſehr du’s immer ſageſt — du koͤnneſt dich irren — Jrreſt
du einmal, ſo iſt des unbaͤndigen, alle Schaam vergeſſenden Gelaͤchters eben ſo viel, als wenn du behauptet
haͤtteſt: ich irre mich nie.
Beſchluß.
Aber ſo wird denn viel zu einem vernuͤnftigen gruͤndlichen Studium der Phyſiognomik erfordert?
Ja, lieber Graf, viel! ſehr viel! — Jch weiß es, was es iſt, Phyſiognomie ſtudieren — und
weiß, wie erſtaunlich weit ich noch zuruͤck bin. Wem’s um Wahrheit, nicht um Schimmer, um Befoͤrde-
rung der allgemeinen Gluͤckſeligkeit, auch durch phyſiognomiſche Wahrheit, zu thun iſt — der wird es nicht ſo
leicht auf ſich nehmen, ſich mit dieſem Studium abzugeben; und ich kann’s nicht genug ſagen — Es iſt mit
einer der Hauptzwecke dieſes Werks, eben ſowohl von der Phyſiognomik abzuſchrecken, wer nicht Sinn, Faͤ-
higkeit, Muße und Beruf dazu hat; als den zu ermuntern — wer’s hat; und ihm ganz vertraulich und ohn’
alle Arkanumsmiene alles, was ich beobachtet habe, und den Weg meiner Beobachtung natuͤrlich und einfaͤltig
zu erzaͤhlen.
So unvollſtaͤndig, mein lieber Graf, dieſe Anweiſung immer iſt, (kaum jemand kann ihre Unvoll-
ſtaͤndigkeit lebhafter empfinden, als ich) — ich bin dennoch bis zur voͤlligſten Beruhigung uͤberzeugt, daß der,
der mit Geiſt und Sinn fuͤr Wahrheit und Natur ſie befolgen wird, Wunder und Geheimniſſe in der Menſchen
Natur uͤberhaupt, und in hundert einzelnen Menſchengeſichtern entdecken wird, die ſeinen Fleiß und ſeine Nach-
forſchung uͤberſchwenglich belohnen werden.
Auch davon bin ich uͤberzeugt, daß er mit jedem Schritte, den er weiter thut, neue Nachſicht und
Behutſamkeit lernen wird. Sicherheit und Behutſamkeit werden in gleichem Schritte mit ihm zu ſeiner Rech-
ten und Linken fortſchreiten.
Je mehr er auf der einen Seite Gewißheit erlangen wird; deſto weniger voreilig wird er auf der andern
Seite mit ſeinen Urtheilen und Entſcheidungen ſeyn. —
Von Jhnen, weiſer Menſchenfreund, vortrefflicher Zeichner, erwarte ich neue Vorſchlaͤge, Raͤthe, Er-
innerungen — und alles, was die Kenntniß guter und weiſer Menſchen befoͤrdern kann.
Jch
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/616>, abgerufen am 23.02.2025.
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