Bezeichne dir auch, sage ich ihm weiter, (wie die Jtaliäner in ihren Pässen und Signalements) die Stimme des Menschen; die Höhe, Tiefe, Stärke, Schwäche, Dumpfheit, Klarheit, Rohigkeit oder Annehm- lichkeit -- Natur oder Falschheit der Stimme -- forsche, welche Stirnen und Töne am öftersten beysammen seyn? Du wirst sicherlich, wenn du feines Gehör hast, dazu gelangen, aus der Stimme auf die Classe der Stirnen, des Temperamentes und des Charakters schließen zu können.
10.
Jeder Mensch hat etwas in seinem Gesichte, das ihn besonders charakterisirt. Jch habe hin und wieder schon mehrmals gesagt, welche Züge für alle Gesichter ohne Ausnahme charakteristisch sind. Aber noch giebt es sehr oft über diese allgemeine noch besondere Züge von äußerster Bestimmtheit und scharfer Bedeutung, wenn ich so sagen darf. Auf diese richte der Physiognomist besonders sein prüfendes Augenmerk. Nicht alle Den- ker haben auffallend denkende Gesichtsformen. Einige haben den Charakter des Denkens, das heißt, das, wodurch sie sich sogleich als solche ankündigen, nur in gewissen Falten der Stirne. Einige Gütige bloß in der Sichtbarkeit, Form, Lage und Farbe der Zähne -- Einige Unzufriedene in dreyeckigten Lineamenten oder Vertiefungen an den Backen u. s. f.
11.
Unterscheide und erforsche sorgfältig das Natürliche, das Zufällige, das Gewaltthätige. Alles Natürliche (Mißgeburten ausgenommen) ist ununterbrochen. Ununterbrochenheit ist das Siegel der Natur. Gewaltthätige Zufälligkeiten unterbrechen. Man spricht so viel von diesen Zufälligkeiten als großen unübersteiglichen Hindernissen der Wissenschaftlichkeit der Physiognomik -- und ist wohl größtentheils etwas leichter zu erkennen, als solche Zufälligkeiten? Wie sichtbar sind nicht die durch Pocken verursachte Ver- unstaltungen? Was etwa durch einen Fall oder Hieb oder eine ähnliche Gewaltthätigkeit verdorben worden, wie auffallend ist's größtentheils? Freylich kenne ich auch Leute, die durch einen Fall in der Jugend imbezil ge- worden sind, ohne daß man die unmittelbaren Spuren des Falles bemerken konnte. Die Jmbezillität aber war sehr merkbar im Gesichte, und war's zum Theil auch in der festen Form des Kopfes. Die Ausdehnung des Hinterhauptes aber war, wie es scheint, durch den Fall gehindert worden. Der Physiognomist erkundige sich also bey allen Gesichtern, die er genau studieren will, um ihre Natur und Erziehungsgeschichte.
12.
Jch sage nicht: der Physiognomist soll aus Einem Zeichen entscheidend urtheilen; ich sage nur -- er kann's bisweilen. Und obgleich Aristoteles sagt:
eni pisteuein ton semeion euethes.
so giebt es doch bisweilen einzelne, schlechterdings entscheidende, sehr charakteristische Züge, sowohl der Anlagen,
als
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Ueber das Studium der Phyſiognomik.
9.
Bezeichne dir auch, ſage ich ihm weiter, (wie die Jtaliaͤner in ihren Paͤſſen und Signalements) die Stimme des Menſchen; die Hoͤhe, Tiefe, Staͤrke, Schwaͤche, Dumpfheit, Klarheit, Rohigkeit oder Annehm- lichkeit — Natur oder Falſchheit der Stimme — forſche, welche Stirnen und Toͤne am oͤfterſten beyſammen ſeyn? Du wirſt ſicherlich, wenn du feines Gehoͤr haſt, dazu gelangen, aus der Stimme auf die Claſſe der Stirnen, des Temperamentes und des Charakters ſchließen zu koͤnnen.
10.
Jeder Menſch hat etwas in ſeinem Geſichte, das ihn beſonders charakteriſirt. Jch habe hin und wieder ſchon mehrmals geſagt, welche Zuͤge fuͤr alle Geſichter ohne Ausnahme charakteriſtiſch ſind. Aber noch giebt es ſehr oft uͤber dieſe allgemeine noch beſondere Zuͤge von aͤußerſter Beſtimmtheit und ſcharfer Bedeutung, wenn ich ſo ſagen darf. Auf dieſe richte der Phyſiognomiſt beſonders ſein pruͤfendes Augenmerk. Nicht alle Den- ker haben auffallend denkende Geſichtsformen. Einige haben den Charakter des Denkens, das heißt, das, wodurch ſie ſich ſogleich als ſolche ankuͤndigen, nur in gewiſſen Falten der Stirne. Einige Guͤtige bloß in der Sichtbarkeit, Form, Lage und Farbe der Zaͤhne — Einige Unzufriedene in dreyeckigten Lineamenten oder Vertiefungen an den Backen u. ſ. f.
11.
Unterſcheide und erforſche ſorgfaͤltig das Natuͤrliche, das Zufaͤllige, das Gewaltthaͤtige. Alles Natuͤrliche (Mißgeburten ausgenommen) iſt ununterbrochen. Ununterbrochenheit iſt das Siegel der Natur. Gewaltthaͤtige Zufaͤlligkeiten unterbrechen. Man ſpricht ſo viel von dieſen Zufaͤlligkeiten als großen unuͤberſteiglichen Hinderniſſen der Wiſſenſchaftlichkeit der Phyſiognomik — und iſt wohl groͤßtentheils etwas leichter zu erkennen, als ſolche Zufaͤlligkeiten? Wie ſichtbar ſind nicht die durch Pocken verurſachte Ver- unſtaltungen? Was etwa durch einen Fall oder Hieb oder eine aͤhnliche Gewaltthaͤtigkeit verdorben worden, wie auffallend iſt’s groͤßtentheils? Freylich kenne ich auch Leute, die durch einen Fall in der Jugend imbezil ge- worden ſind, ohne daß man die unmittelbaren Spuren des Falles bemerken konnte. Die Jmbezillitaͤt aber war ſehr merkbar im Geſichte, und war’s zum Theil auch in der feſten Form des Kopfes. Die Ausdehnung des Hinterhauptes aber war, wie es ſcheint, durch den Fall gehindert worden. Der Phyſiognomiſt erkundige ſich alſo bey allen Geſichtern, die er genau ſtudieren will, um ihre Natur und Erziehungsgeſchichte.
12.
Jch ſage nicht: der Phyſiognomiſt ſoll aus Einem Zeichen entſcheidend urtheilen; ich ſage nur — er kann’s bisweilen. Und obgleich Ariſtoteles ſagt:
ἑνὶ πιστεύειν τῶν σημείων ἐυηϑὲς.
ſo giebt es doch bisweilen einzelne, ſchlechterdings entſcheidende, ſehr charakteriſtiſche Zuͤge, ſowohl der Anlagen,
als
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Ueber das Studium der Phyſiognomik.
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Bezeichne dir auch, ſage ich ihm weiter, (wie die Jtaliaͤner in ihren Paͤſſen und Signalements) die
Stimme des Menſchen; die Hoͤhe, Tiefe, Staͤrke, Schwaͤche, Dumpfheit, Klarheit, Rohigkeit oder Annehm-
lichkeit — Natur oder Falſchheit der Stimme — forſche, welche Stirnen und Toͤne am oͤfterſten beyſammen
ſeyn? Du wirſt ſicherlich, wenn du feines Gehoͤr haſt, dazu gelangen, aus der Stimme auf die Claſſe der
Stirnen, des Temperamentes und des Charakters ſchließen zu koͤnnen.
10.
Jeder Menſch hat etwas in ſeinem Geſichte, das ihn beſonders charakteriſirt. Jch habe hin und wieder
ſchon mehrmals geſagt, welche Zuͤge fuͤr alle Geſichter ohne Ausnahme charakteriſtiſch ſind. Aber noch giebt es
ſehr oft uͤber dieſe allgemeine noch beſondere Zuͤge von aͤußerſter Beſtimmtheit und ſcharfer Bedeutung, wenn
ich ſo ſagen darf. Auf dieſe richte der Phyſiognomiſt beſonders ſein pruͤfendes Augenmerk. Nicht alle Den-
ker haben auffallend denkende Geſichtsformen. Einige haben den Charakter des Denkens, das heißt, das,
wodurch ſie ſich ſogleich als ſolche ankuͤndigen, nur in gewiſſen Falten der Stirne. Einige Guͤtige bloß in der
Sichtbarkeit, Form, Lage und Farbe der Zaͤhne — Einige Unzufriedene in dreyeckigten Lineamenten oder
Vertiefungen an den Backen u. ſ. f.
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Unterſcheide und erforſche ſorgfaͤltig das Natuͤrliche, das Zufaͤllige, das Gewaltthaͤtige. Alles
Natuͤrliche (Mißgeburten ausgenommen) iſt ununterbrochen. Ununterbrochenheit iſt das Siegel der
Natur. Gewaltthaͤtige Zufaͤlligkeiten unterbrechen. Man ſpricht ſo viel von dieſen Zufaͤlligkeiten als
großen unuͤberſteiglichen Hinderniſſen der Wiſſenſchaftlichkeit der Phyſiognomik — und iſt wohl groͤßtentheils
etwas leichter zu erkennen, als ſolche Zufaͤlligkeiten? Wie ſichtbar ſind nicht die durch Pocken verurſachte Ver-
unſtaltungen? Was etwa durch einen Fall oder Hieb oder eine aͤhnliche Gewaltthaͤtigkeit verdorben worden,
wie auffallend iſt’s groͤßtentheils? Freylich kenne ich auch Leute, die durch einen Fall in der Jugend imbezil ge-
worden ſind, ohne daß man die unmittelbaren Spuren des Falles bemerken konnte. Die Jmbezillitaͤt aber war
ſehr merkbar im Geſichte, und war’s zum Theil auch in der feſten Form des Kopfes. Die Ausdehnung des
Hinterhauptes aber war, wie es ſcheint, durch den Fall gehindert worden. Der Phyſiognomiſt erkundige ſich
alſo bey allen Geſichtern, die er genau ſtudieren will, um ihre Natur und Erziehungsgeſchichte.
12.
Jch ſage nicht: der Phyſiognomiſt ſoll aus Einem Zeichen entſcheidend urtheilen; ich ſage nur — er
kann’s bisweilen. Und obgleich Ariſtoteles ſagt:
ἑνὶ πιστεύειν τῶν σημείων ἐυηϑὲς.
ſo giebt es doch bisweilen einzelne, ſchlechterdings entſcheidende, ſehr charakteriſtiſche Zuͤge, ſowohl der Anlagen,
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/605>, abgerufen am 23.02.2025.
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