Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Erstes Fragment. Ueber das Studium der Physiognomik. Fortsetzung. An den Herrn Grafen von Thun in Wien. Lassen Sie mich Jhnen, vortrefflicher Graf, noch einige Bogen voll vermischter Gedanken, Räthe und Bitten 1. Die Natur bildet alle Menschen nach Einer Grundform, welche nur auf unendlich mannichfaltige Jeder Mensch, der ohne gewaltsame äußerliche Zufälle nicht im Parallelismus der allgemeinen Mensch- 2. Wenn Ein Hauptzug bedeutend ist, so ist es auch der Nebenzug. Das Kleinste muß seinen 3. Das *) Aristoteles z. E. hatte bekanntermaßen dünne Beine und kleine Augen. M m m 2
Erſtes Fragment. Ueber das Studium der Phyſiognomik. Fortſetzung. An den Herrn Grafen von Thun in Wien. Laſſen Sie mich Jhnen, vortrefflicher Graf, noch einige Bogen voll vermiſchter Gedanken, Raͤthe und Bitten 1. Die Natur bildet alle Menſchen nach Einer Grundform, welche nur auf unendlich mannichfaltige Jeder Menſch, der ohne gewaltſame aͤußerliche Zufaͤlle nicht im Parallelismus der allgemeinen Menſch- 2. Wenn Ein Hauptzug bedeutend iſt, ſo iſt es auch der Nebenzug. Das Kleinſte muß ſeinen 3. Das *) Ariſtoteles z. E. hatte bekanntermaßen duͤnne Beine und kleine Augen. M m m 2
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Erſtes Fragment.
Ueber das Studium der Phyſiognomik. Fortſetzung. An den Herrn
Grafen von Thun in Wien.
Laſſen Sie mich Jhnen, vortrefflicher Graf, noch einige Bogen voll vermiſchter Gedanken, Raͤthe und Bitten
an Phyſiognomen zur Pruͤfung vorlegen, wenn Jhnen mein erſter Verſuch noch nicht Langeweile gemacht hat.
Jch werde, um Raum und Zeit zu ſchonen, ſo kurz ſeyn, wie moͤglich. Von dem unendlich vielen, was noch
zu ſagen waͤre, wie wenig kann ich ſagen! Nicht das Liebſte alles — aber das Noͤthigſte! und ſo wie’s mir bey-
faͤllt — Es wird am Ende auf Eines herauskommen.
1.
Die Natur bildet alle Menſchen nach Einer Grundform, welche nur auf unendlich mannichfaltige
Weiſe verſchoben wird, immer aber im Parallelismus und derſelben Proportion bleibt, wie der Pantagraph
oder das Parallellineal.
Jeder Menſch, der ohne gewaltſame aͤußerliche Zufaͤlle nicht im Parallelismus der allgemeinen Menſch-
heit ſteht, iſt eine Mißgeburt, und jeder, je mehr er im reinſten horizontalen und perpendikularen Parallelis-
mus der Menſchengeſtalt ſteht, iſt um ſo viel vollkommener, menſchlicher und goͤttlicher. Eine Beobachtung, die
der Schuͤler der Phyſiognomik mir erſt nachpruͤfen, ſodann, wenn er ſie richtig gefunden hat, zu einem allgemein
aufſchließenden Grundſatze machen ſoll. Freylich ſchon oft iſt’s geſagt, und dennoch vielleicht noch nicht oft ge-
nug. Auch die ſchlechteſten Außengeſtalten koͤnnen oft große Geiſter beherbergen. Genie und Tu-
gend koͤnnen in mancherley Arten von Mißgeſtalten, *) ſo wie in den aͤrmlichſten Huͤtten wohnen. Wie’s aber
Huͤtten giebt, in denen kein menſchliches Geſchoͤpf aufrecht ſtehen kann, ſo Koͤpfe und Formen, in denen kein
Genie, keine Großmuth ſich aufrichten, oder aufrecht halten kann. Alſo ſuche der Phyſiognome — welche
ſchoͤne und wohlproportionirte Formen von großen Geiſtern unzertrennlich ſeyn? welche abweichende Formen
noch Freyheit und Spielraum genug fuͤr Talente und Tugend uͤbrig laſſen — vielleicht Talent- und Tugendkraft
konzentriren, indem ſie denſelben verengern?
2.
Wenn Ein Hauptzug bedeutend iſt, ſo iſt es auch der Nebenzug. Das Kleinſte muß ſeinen
Grund haben, wie das Groͤßte. Alles hat ſeinen Grund oder gar nichts. Wenn du das nicht ohne weitere
Beweiſe erkennſt, Phyſiognome! weg vom Studium der Phyſiognomik!
3. Das
*) Ariſtoteles z. E. hatte bekanntermaßen duͤnne Beine und kleine Augen.
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