Ein Gespräch zwischen einem Mahler A. und Physiognomen B.
Des IV Ban- des LVIII. Tafel. Nach G ... c.
A. Hier ein Christuskopf --
B. Von wem?
A. Theils nach Carrage, theils nach mir.
B. So -- muß ich Jhnen gleich sagen, ohne ihn anzusehen: Er wird nicht viel taugen, und wenn Sie's noch zehnmal besser, als Carrage gemacht hätten.
Jedes Kunstwerk, das ein Naturganzes vorstellt, muß von Einem und aus Einem seyn, sonst ist's wie Nebukadnezars Traumbild -- von Gold und Erz und Eisen und Thon.
A. Sehen Sie's aber doch an. Freylich hat's unter der Nadel viel von der Grazie des Originals verloren.
B. Wahrlich, dieß Gesicht hatte nicht viel zu verlieren.
A. Kenner sagten doch, daß es keck und meisterhaft gezeichnet sey.
B. Man kann ein Schelmengesicht keck und meisterhaft zeichnen -- wir haben ein Chri- stusgesicht vor uns -- ist's wahr? ist's charakteristisch? ist's, was es seyn soll? vertritt's die Stelle des Lebens der Natur? -- Das, meyne ich, wären die Fragen, die man sich allervörderst vorzulegen hätte, wenn man etwas schafft -- oder Geschaffenes beurtheilen will.
A. Und Sie finden nichts wahres, charakteristisches, nichts in diesem Gesichte?
B. Wahrlich, wenn Sie's nicht selbst sehen, daß weder Seele noch Geist, weder Adel noch Größe, von Harmonie und Gottheit will ich nicht einmal reden, in diesem Gesichte ist -- so ist ge- wiß jedes Wort von mir vergebens. Die allenfalls leidliche, aber von Adel und Feinheit -- doch beynahe leere, Nase ausgenommen, ist nicht ein Zug, der für ein Christusgesicht nicht entweder sehr unbestimmt, oder viel zu gemein, oder abscheulich ist. Aeußerst unbestimmt und unbedeutend ist die Stirn; äußerst unbestimmt und gemein die Augenbraunen. Sollen sie in dieser Verzerrung Schmerz andeuten, so harmoniren die Augen gar nicht mit; die Augen, die dem Umrisse nach, wenn sie weniger flach, und mehr nüancirt wären, an sich allenfalls noch einen gescheuten Mann zeig- ten -- Aber unleidlich unnatürlich ist der Uebergang von den Augenbraunen zur Nasenwurzel! Aber erbärmlich unbestimmt und kahl ist der schiefe seelenlose Mund, besonders die Unterlippe -- aber
unnatür-
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Chriſtusbilder.
G. Ein ſchattirtes Vollgeſicht.
Ein Geſpraͤch zwiſchen einem Mahler A. und Phyſiognomen B.
Des IV Ban- des LVIII. Tafel. Nach G ... c.
A. Hier ein Chriſtuskopf —
B. Von wem?
A. Theils nach Carrage, theils nach mir.
B. So — muß ich Jhnen gleich ſagen, ohne ihn anzuſehen: Er wird nicht viel taugen, und wenn Sie’s noch zehnmal beſſer, als Carrage gemacht haͤtten.
Jedes Kunſtwerk, das ein Naturganzes vorſtellt, muß von Einem und aus Einem ſeyn, ſonſt iſt’s wie Nebukadnezars Traumbild — von Gold und Erz und Eiſen und Thon.
A. Sehen Sie’s aber doch an. Freylich hat’s unter der Nadel viel von der Grazie des Originals verloren.
B. Wahrlich, dieß Geſicht hatte nicht viel zu verlieren.
A. Kenner ſagten doch, daß es keck und meiſterhaft gezeichnet ſey.
B. Man kann ein Schelmengeſicht keck und meiſterhaft zeichnen — wir haben ein Chri- ſtusgeſicht vor uns — iſt’s wahr? iſt’s charakteriſtiſch? iſt’s, was es ſeyn ſoll? vertritt’s die Stelle des Lebens der Natur? — Das, meyne ich, waͤren die Fragen, die man ſich allervoͤrderſt vorzulegen haͤtte, wenn man etwas ſchafft — oder Geſchaffenes beurtheilen will.
A. Und Sie finden nichts wahres, charakteriſtiſches, nichts in dieſem Geſichte?
B. Wahrlich, wenn Sie’s nicht ſelbſt ſehen, daß weder Seele noch Geiſt, weder Adel noch Groͤße, von Harmonie und Gottheit will ich nicht einmal reden, in dieſem Geſichte iſt — ſo iſt ge- wiß jedes Wort von mir vergebens. Die allenfalls leidliche, aber von Adel und Feinheit — doch beynahe leere, Naſe ausgenommen, iſt nicht ein Zug, der fuͤr ein Chriſtusgeſicht nicht entweder ſehr unbeſtimmt, oder viel zu gemein, oder abſcheulich iſt. Aeußerſt unbeſtimmt und unbedeutend iſt die Stirn; aͤußerſt unbeſtimmt und gemein die Augenbraunen. Sollen ſie in dieſer Verzerrung Schmerz andeuten, ſo harmoniren die Augen gar nicht mit; die Augen, die dem Umriſſe nach, wenn ſie weniger flach, und mehr nuͤançirt waͤren, an ſich allenfalls noch einen geſcheuten Mann zeig- ten — Aber unleidlich unnatuͤrlich iſt der Uebergang von den Augenbraunen zur Naſenwurzel! Aber erbaͤrmlich unbeſtimmt und kahl iſt der ſchiefe ſeelenloſe Mund, beſonders die Unterlippe — aber
unnatuͤr-
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Chriſtusbilder.
G. Ein ſchattirtes Vollgeſicht.
Ein Geſpraͤch zwiſchen einem Mahler A. und Phyſiognomen B.
A. Hier ein Chriſtuskopf —
B. Von wem?
A. Theils nach Carrage, theils nach mir.
B. So — muß ich Jhnen gleich ſagen, ohne ihn anzuſehen: Er wird nicht viel taugen,
und wenn Sie’s noch zehnmal beſſer, als Carrage gemacht haͤtten.
Jedes Kunſtwerk, das ein Naturganzes vorſtellt, muß von Einem und aus Einem
ſeyn, ſonſt iſt’s wie Nebukadnezars Traumbild — von Gold und Erz und Eiſen und Thon.
A. Sehen Sie’s aber doch an. Freylich hat’s unter der Nadel viel von der Grazie des
Originals verloren.
B. Wahrlich, dieß Geſicht hatte nicht viel zu verlieren.
A. Kenner ſagten doch, daß es keck und meiſterhaft gezeichnet ſey.
B. Man kann ein Schelmengeſicht keck und meiſterhaft zeichnen — wir haben ein Chri-
ſtusgeſicht vor uns — iſt’s wahr? iſt’s charakteriſtiſch? iſt’s, was es ſeyn ſoll? vertritt’s die Stelle
des Lebens der Natur? — Das, meyne ich, waͤren die Fragen, die man ſich allervoͤrderſt vorzulegen
haͤtte, wenn man etwas ſchafft — oder Geſchaffenes beurtheilen will.
A. Und Sie finden nichts wahres, charakteriſtiſches, nichts in dieſem Geſichte?
B. Wahrlich, wenn Sie’s nicht ſelbſt ſehen, daß weder Seele noch Geiſt, weder Adel noch
Groͤße, von Harmonie und Gottheit will ich nicht einmal reden, in dieſem Geſichte iſt — ſo iſt ge-
wiß jedes Wort von mir vergebens. Die allenfalls leidliche, aber von Adel und Feinheit — doch
beynahe leere, Naſe ausgenommen, iſt nicht ein Zug, der fuͤr ein Chriſtusgeſicht nicht entweder ſehr
unbeſtimmt, oder viel zu gemein, oder abſcheulich iſt. Aeußerſt unbeſtimmt und unbedeutend iſt die
Stirn; aͤußerſt unbeſtimmt und gemein die Augenbraunen. Sollen ſie in dieſer Verzerrung
Schmerz andeuten, ſo harmoniren die Augen gar nicht mit; die Augen, die dem Umriſſe nach, wenn
ſie weniger flach, und mehr nuͤançirt waͤren, an ſich allenfalls noch einen geſcheuten Mann zeig-
ten — Aber unleidlich unnatuͤrlich iſt der Uebergang von den Augenbraunen zur Naſenwurzel! Aber
erbaͤrmlich unbeſtimmt und kahl iſt der ſchiefe ſeelenloſe Mund, beſonders die Unterlippe — aber
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 445. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/577>, abgerufen am 23.02.2025.
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