Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Gerechtigkeit. sind hart, aber zierlich gezeichnet -- Das Auge selbst ist hell, und voll stiller Kraft -- Schade,daß die Umrisse der Augenlieder nicht von reinem, freyem Schwunge sind -- Die Wange ist zu leer und zu rund. Das Nasenloch ausgenommen, ist die Nase vortrefflich für den Charakter, den sie bezeichnen soll. Der Mund ist voll Treue und Güte, obgleich die Oberlippe um etwas zu klein und verzeichnet ist. Ueber das Kinn ist eine Anmuth ausgegossen, die Zutrauen erwecket. -- Es ist keine Gerechtigkeit ohne Güte, aber die Güte ist der Gerechtigkeit durchaus untergeordnet -- oder noch besser -- die Güte macht dieses Gesicht gerecht; denn jede Gerechtigkeit ohne Güte, nicht geweckt und nicht genährt von Güte, wird alle Augenblicke unerträgliche Grausamkeit -- Es ist das Wesen der Gerechtigkeit, sich in die wahre Beschaffenheit der Dinge hineinzudenken, und die- ses redliche Hineindenken verdrängt alle lieblose Härte; setzt aber auch eine Stärke voraus, die keiner Weichheit, welche so oft mit Güte verwechselt wird, Raum läßt. Fünftes Fragment. Des IV Ban-Sanftmuth. des XXXVI. Tafel. Nach Raphael. Aller Mißzeichnungen ungeachtet -- (die punktirten Linien mögen diese sichtbar ma- Nachste-
Gerechtigkeit. ſind hart, aber zierlich gezeichnet — Das Auge ſelbſt iſt hell, und voll ſtiller Kraft — Schade,daß die Umriſſe der Augenlieder nicht von reinem, freyem Schwunge ſind — Die Wange iſt zu leer und zu rund. Das Naſenloch ausgenommen, iſt die Naſe vortrefflich fuͤr den Charakter, den ſie bezeichnen ſoll. Der Mund iſt voll Treue und Guͤte, obgleich die Oberlippe um etwas zu klein und verzeichnet iſt. Ueber das Kinn iſt eine Anmuth ausgegoſſen, die Zutrauen erwecket. — Es iſt keine Gerechtigkeit ohne Guͤte, aber die Guͤte iſt der Gerechtigkeit durchaus untergeordnet — oder noch beſſer — die Guͤte macht dieſes Geſicht gerecht; denn jede Gerechtigkeit ohne Guͤte, nicht geweckt und nicht genaͤhrt von Guͤte, wird alle Augenblicke unertraͤgliche Grauſamkeit — Es iſt das Weſen der Gerechtigkeit, ſich in die wahre Beſchaffenheit der Dinge hineinzudenken, und die- ſes redliche Hineindenken verdraͤngt alle liebloſe Haͤrte; ſetzt aber auch eine Staͤrke voraus, die keiner Weichheit, welche ſo oft mit Guͤte verwechſelt wird, Raum laͤßt. Fuͤnftes Fragment. Des IV Ban-Sanftmuth. des XXXVI. Tafel. Nach Raphael. Aller Mißzeichnungen ungeachtet — (die punktirten Linien moͤgen dieſe ſichtbar ma- Nachſte-
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Gerechtigkeit.
ſind hart, aber zierlich gezeichnet — Das Auge ſelbſt iſt hell, und voll ſtiller Kraft — Schade,
daß die Umriſſe der Augenlieder nicht von reinem, freyem Schwunge ſind — Die Wange iſt zu
leer und zu rund. Das Naſenloch ausgenommen, iſt die Naſe vortrefflich fuͤr den Charakter, den
ſie bezeichnen ſoll. Der Mund iſt voll Treue und Guͤte, obgleich die Oberlippe um etwas zu klein
und verzeichnet iſt. Ueber das Kinn iſt eine Anmuth ausgegoſſen, die Zutrauen erwecket. — Es
iſt keine Gerechtigkeit ohne Guͤte, aber die Guͤte iſt der Gerechtigkeit durchaus untergeordnet —
oder noch beſſer — die Guͤte macht dieſes Geſicht gerecht; denn jede Gerechtigkeit ohne Guͤte, nicht
geweckt und nicht genaͤhrt von Guͤte, wird alle Augenblicke unertraͤgliche Grauſamkeit — Es iſt
das Weſen der Gerechtigkeit, ſich in die wahre Beſchaffenheit der Dinge hineinzudenken, und die-
ſes redliche Hineindenken verdraͤngt alle liebloſe Haͤrte; ſetzt aber auch eine Staͤrke voraus, die
keiner Weichheit, welche ſo oft mit Guͤte verwechſelt wird, Raum laͤßt.
Fuͤnftes Fragment.
Sanftmuth.
Aller Mißzeichnungen ungeachtet — (die punktirten Linien moͤgen dieſe ſichtbar ma-
chen) dennoch beynah ein erhabenes Geſicht — voll ſtiller Betrachtung und ruhiger
Theilnehmung — ohne heftige Begierden; und ohne traͤge Schwerheit. Waͤre alles
an ſeinen rechten Ort geſetzt — haͤtte die Stirn den durch Punkte angezeigten Umriß; waͤren die
Augenbraunen beſtimmter; beſtimmter und verkuͤrzter das obere und untere Augenlied; haͤtte der
Uebergang von der rechten Augenbraune zur Naſe freyern Schwung; waͤre mehr vom Naſenloche
ſichtbar; waͤre der Mund im Ganzen nicht ſo verſetzt; und die Lippen gegen einander ſo verſchoben;
das Kinn unten runder und beſtimmter — (und das ſind noch nicht alle Fehler dieſer im Originale
ſelbſt aͤußerſt unvollkommenen Zeichnung) — dann waͤre der Kopf einer Madonna wuͤrdig.
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