Des IV Ban- des XXXIV. Tafel. Vollge- sicht und Profil v. Ver- elsd. a. b.
a)Ein Gesicht, über das man nichts sagen darf und soll. Es spricht, ohne sprechen zu wollen. Beynahe nenn ichs Angesicht der Tugend. Nicht der süßen Em- pfindeley; nicht kostbarer Gefühlsprahlerey; ein wahrer, reiner, naturvoller Charak- ter; ein Gesicht, das gar nichts seichtes, welkes, wurmstichiges hat; selbst bey dem et- was verfehlten Gleichmaße, (denn z. E. das rechte Auge steht etwas zu weit von der Nase ab,) immer noch voll Ruhe, Einfalt, Gesundheit, Treue; zwanglos; ein Gesicht, mit dem man sich alle Augenblicke verbrüdern möchte, und nicht darf, weil man sich zu unheilig fühlt. Unange- spannt, entwölkt; "Tugendschöne," wie Herder sich irgendwo ausdrückt, Tugendschöne, wie "das Sonnenlicht, unwandelbar, wirksam und erwärmend.*)
b) Nicht dasselbe Gesicht im Profile. Schwächer, durch seine Perpendikularität, Gedehnt- heit der Stirne, Fläche der Umrisse -- aber dennoch ein ehrliches, unschuldiges Nathanaelsgesicht; das horcht auf Lehren mehr der Tugend, als Weisheit.
Nachste-
*)Der milde Mann. Nach Rusland. [Spaltenumbruch]
Mich freuet eines milden Mannes Angesicht So sehr, daß ich, vor lauter Lieb' erschrocken, Das ganze Firmament mit aller Sternen Licht Mir nahe seh. Jn manchem Sprunge Hüpft dann mein Herze, meine Zünge Bleibt lange vor Vergnügen stocken, [Spaltenumbruch]Nicht wissend, was sie sprechen soll. Dem guten milden Mann ich wohl Einfältig sehr erscheinen muß! Doch freuet Sonnenschein in sommerlicher Stunde Mich nicht so sehr, als wie von solchen Mannes Munde Der kleinste Gruß.
D d d 3
Drittes Fragment. Unſchuld und Einfalt.
Des IV Ban- des XXXIV. Tafel. Vollge- ſicht und Profil v. Ver- elsd. a. b.
a)Ein Geſicht, uͤber das man nichts ſagen darf und ſoll. Es ſpricht, ohne ſprechen zu wollen. Beynahe nenn ichs Angeſicht der Tugend. Nicht der ſuͤßen Em- pfindeley; nicht koſtbarer Gefuͤhlsprahlerey; ein wahrer, reiner, naturvoller Charak- ter; ein Geſicht, das gar nichts ſeichtes, welkes, wurmſtichiges hat; ſelbſt bey dem et- was verfehlten Gleichmaße, (denn z. E. das rechte Auge ſteht etwas zu weit von der Naſe ab,) immer noch voll Ruhe, Einfalt, Geſundheit, Treue; zwanglos; ein Geſicht, mit dem man ſich alle Augenblicke verbruͤdern moͤchte, und nicht darf, weil man ſich zu unheilig fuͤhlt. Unange- ſpannt, entwoͤlkt; „Tugendſchoͤne,“ wie Herder ſich irgendwo ausdruͤckt, Tugendſchoͤne, wie „das Sonnenlicht, unwandelbar, wirkſam und erwaͤrmend.*)
b) Nicht daſſelbe Geſicht im Profile. Schwaͤcher, durch ſeine Perpendikularitaͤt, Gedehnt- heit der Stirne, Flaͤche der Umriſſe — aber dennoch ein ehrliches, unſchuldiges Nathanaelsgeſicht; das horcht auf Lehren mehr der Tugend, als Weisheit.
Nachſte-
*)Der milde Mann. Nach Rusland. [Spaltenumbruch]
Mich freuet eines milden Mannes Angeſicht So ſehr, daß ich, vor lauter Lieb’ erſchrocken, Das ganze Firmament mit aller Sternen Licht Mir nahe ſeh. Jn manchem Sprunge Huͤpft dann mein Herze, meine Zuͤnge Bleibt lange vor Vergnuͤgen ſtocken, [Spaltenumbruch]Nicht wiſſend, was ſie ſprechen ſoll. Dem guten milden Mann ich wohl Einfaͤltig ſehr erſcheinen muß! Doch freuet Sonnenſchein in ſommerlicher Stunde Mich nicht ſo ſehr, als wie von ſolchen Mannes Munde Der kleinſte Gruß.
D d d 3
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Drittes Fragment.
Unſchuld und Einfalt.
a) Ein Geſicht, uͤber das man nichts ſagen darf und ſoll. Es ſpricht, ohne ſprechen zu
wollen. Beynahe nenn ichs Angeſicht der Tugend. Nicht der ſuͤßen Em-
pfindeley; nicht koſtbarer Gefuͤhlsprahlerey; ein wahrer, reiner, naturvoller Charak-
ter; ein Geſicht, das gar nichts ſeichtes, welkes, wurmſtichiges hat; ſelbſt bey dem et-
was verfehlten Gleichmaße, (denn z. E. das rechte Auge ſteht etwas zu weit von der
Naſe ab,) immer noch voll Ruhe, Einfalt, Geſundheit, Treue; zwanglos; ein Geſicht, mit dem man
ſich alle Augenblicke verbruͤdern moͤchte, und nicht darf, weil man ſich zu unheilig fuͤhlt. Unange-
ſpannt, entwoͤlkt; „Tugendſchoͤne,“ wie Herder ſich irgendwo ausdruͤckt, Tugendſchoͤne, wie
„das Sonnenlicht, unwandelbar, wirkſam und erwaͤrmend. *)
b) Nicht daſſelbe Geſicht im Profile. Schwaͤcher, durch ſeine Perpendikularitaͤt, Gedehnt-
heit der Stirne, Flaͤche der Umriſſe — aber dennoch ein ehrliches, unſchuldiges Nathanaelsgeſicht;
das horcht auf Lehren mehr der Tugend, als Weisheit.
Nachſte-
*) Der milde Mann. Nach Rusland.
Mich freuet eines milden Mannes Angeſicht
So ſehr, daß ich, vor lauter Lieb’ erſchrocken,
Das ganze Firmament mit aller Sternen Licht
Mir nahe ſeh. Jn manchem Sprunge
Huͤpft dann mein Herze, meine Zuͤnge
Bleibt lange vor Vergnuͤgen ſtocken,
Nicht wiſſend, was ſie ſprechen ſoll.
Dem guten milden Mann ich wohl
Einfaͤltig ſehr erſcheinen muß!
Doch freuet Sonnenſchein in ſommerlicher Stunde
Mich nicht ſo ſehr, als wie von ſolchen Mannes Munde
Der kleinſte Gruß.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/481>, abgerufen am 23.02.2025.
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