"Ob sich schon die Schönheit nie in der Natur vollkommen findet, so soll man doch nicht glau- "ben, daß sie sich nicht finden könne, und daß man die Gesetze der Wahrheit verlassen müsse, um der "Schönheit nachzugehen; denn dieses ist nicht also. Die Natur hat alles auf solche Weise erschaffen, "daß es nach seiner Bestimmung vollkommen seyn könne. Weil aber die Vollkommenheit sich alle- "zeit der höchsten Vollkommenheit nähert, so ist ihrer wenig und des Unvollkommenen viel. Wie "unter allen Steinen nur eine einzige Art vollkommen ist, nämlich der Diamant; unter allen Me- "tallen nur das Gold; unter allen lebendigen Geschöpfen der Mensch; so ist auch wieder in jedem "Geschlechte ein Unterschied, und ist des Vollkommenen sehr wenig. Da der Mensch nicht von sich "selbst hervorkömmt, sondern sein Zustand schon im Mutterleibe, wenn er sich gestaltet, von äus- "sern Zufällen abhängt, so ist fast unmöglich, daß ein Mensch vollkommen schön seyn könne. Es "ist selten ein Mensch, der keine Leidenschaft prüfete, so im Theile oder Ganzen die Gesundheit stö- "rete; auch kein Mensch, bey dem nicht einige Gemüthsneigungen vor andern herrschen; diese un- "terschiedlichen Leidenschaften und Regungen haben am menschlichen Leibe unterschiedliche Theile, "worinnen sie hauptsächlich wirken: also ist es auch mit den Weibern; sind sie noch mit den Kin- "dern schwanger, so drücken und stören ihre Leidenschaften ihre Gesundheit, und diese das Erzeug- "te, so daß die Seele des Kindes nicht allezeit mit Freyheit den Bau des Körpers verfertigen kann; "könnte aber die Seele des Menschen in seiner Gestaltung frey wirken, so würde er vollkommen "schön seyn. Darum gehört die Schönheit auch zur Bedeutung der Macht der Seele, und giebt "eine gute Meynung von dem Menschen, in dem sie gefunden wird. Weil die Seele aber oft ver- "hindert wird, so werden selten schöne Menschen erzeuget. Auch sind die Völker von unterschiede- "nen Lagen der Länder, von unterschiedenen Gemüthsregungen beherrschet, und durch gewisse Ge- "stalten bezeichnet. Daß die vollkommene Schönheit sich aber im Menschen finden könne, sieht "man daraus, daß fast jeder Mensch einige Theile schön hat, und daß die schönsten Theile mit der "Nützlichkeit und Ursache des Baues am meisten übereinstimmen. Also würde der Mensch, hätten "ihn nicht die Zufälle verstöret, gewiß schön seyn. Jch rede vom Menschen, als demjenigen Theile "der ganzen Natur, worinnen die Schönheit am meisten erscheint."
Erstes
Aus Mengs. Zur Erfuͤllung des leeren Raums.
„Ob ſich ſchon die Schoͤnheit nie in der Natur vollkommen findet, ſo ſoll man doch nicht glau- „ben, daß ſie ſich nicht finden koͤnne, und daß man die Geſetze der Wahrheit verlaſſen muͤſſe, um der „Schoͤnheit nachzugehen; denn dieſes iſt nicht alſo. Die Natur hat alles auf ſolche Weiſe erſchaffen, „daß es nach ſeiner Beſtimmung vollkommen ſeyn koͤnne. Weil aber die Vollkommenheit ſich alle- „zeit der hoͤchſten Vollkommenheit naͤhert, ſo iſt ihrer wenig und des Unvollkommenen viel. Wie „unter allen Steinen nur eine einzige Art vollkommen iſt, naͤmlich der Diamant; unter allen Me- „tallen nur das Gold; unter allen lebendigen Geſchoͤpfen der Menſch; ſo iſt auch wieder in jedem „Geſchlechte ein Unterſchied, und iſt des Vollkommenen ſehr wenig. Da der Menſch nicht von ſich „ſelbſt hervorkoͤmmt, ſondern ſein Zuſtand ſchon im Mutterleibe, wenn er ſich geſtaltet, von aͤuſ- „ſern Zufaͤllen abhaͤngt, ſo iſt faſt unmoͤglich, daß ein Menſch vollkommen ſchoͤn ſeyn koͤnne. Es „iſt ſelten ein Menſch, der keine Leidenſchaft pruͤfete, ſo im Theile oder Ganzen die Geſundheit ſtoͤ- „rete; auch kein Menſch, bey dem nicht einige Gemuͤthsneigungen vor andern herrſchen; dieſe un- „terſchiedlichen Leidenſchaften und Regungen haben am menſchlichen Leibe unterſchiedliche Theile, „worinnen ſie hauptſaͤchlich wirken: alſo iſt es auch mit den Weibern; ſind ſie noch mit den Kin- „dern ſchwanger, ſo druͤcken und ſtoͤren ihre Leidenſchaften ihre Geſundheit, und dieſe das Erzeug- „te, ſo daß die Seele des Kindes nicht allezeit mit Freyheit den Bau des Koͤrpers verfertigen kann; „koͤnnte aber die Seele des Menſchen in ſeiner Geſtaltung frey wirken, ſo wuͤrde er vollkommen „ſchoͤn ſeyn. Darum gehoͤrt die Schoͤnheit auch zur Bedeutung der Macht der Seele, und giebt „eine gute Meynung von dem Menſchen, in dem ſie gefunden wird. Weil die Seele aber oft ver- „hindert wird, ſo werden ſelten ſchoͤne Menſchen erzeuget. Auch ſind die Voͤlker von unterſchiede- „nen Lagen der Laͤnder, von unterſchiedenen Gemuͤthsregungen beherrſchet, und durch gewiſſe Ge- „ſtalten bezeichnet. Daß die vollkommene Schoͤnheit ſich aber im Menſchen finden koͤnne, ſieht „man daraus, daß faſt jeder Menſch einige Theile ſchoͤn hat, und daß die ſchoͤnſten Theile mit der „Nuͤtzlichkeit und Urſache des Baues am meiſten uͤbereinſtimmen. Alſo wuͤrde der Menſch, haͤtten „ihn nicht die Zufaͤlle verſtoͤret, gewiß ſchoͤn ſeyn. Jch rede vom Menſchen, als demjenigen Theile „der ganzen Natur, worinnen die Schoͤnheit am meiſten erſcheint.“
Erſtes
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0474"n="[392]"/><divn="3"><head><hirendition="#b">Aus Mengs. Zur Erfuͤllung des leeren Raums.</hi></head><lb/><p>„Ob ſich ſchon die Schoͤnheit nie in der Natur vollkommen findet, ſo ſoll man doch nicht glau-<lb/>„ben, daß ſie ſich nicht finden koͤnne, und daß man die Geſetze der Wahrheit verlaſſen muͤſſe, um der<lb/>„Schoͤnheit nachzugehen; denn dieſes iſt nicht alſo. Die Natur hat alles auf ſolche Weiſe erſchaffen,<lb/>„daß es nach ſeiner Beſtimmung vollkommen ſeyn koͤnne. Weil aber die Vollkommenheit ſich alle-<lb/>„zeit der hoͤchſten Vollkommenheit naͤhert, ſo iſt ihrer wenig und des Unvollkommenen viel. Wie<lb/>„unter allen Steinen nur eine einzige Art vollkommen iſt, naͤmlich der Diamant; unter allen Me-<lb/>„tallen nur das Gold; unter allen lebendigen Geſchoͤpfen der Menſch; ſo iſt auch wieder in jedem<lb/>„Geſchlechte ein Unterſchied, und iſt des Vollkommenen ſehr wenig. Da der Menſch nicht von ſich<lb/>„ſelbſt hervorkoͤmmt, ſondern ſein Zuſtand ſchon im Mutterleibe, wenn er ſich geſtaltet, von aͤuſ-<lb/>„ſern Zufaͤllen abhaͤngt, ſo iſt faſt unmoͤglich, daß ein Menſch vollkommen ſchoͤn ſeyn koͤnne. Es<lb/>„iſt ſelten ein Menſch, der keine Leidenſchaft pruͤfete, ſo im Theile oder Ganzen die Geſundheit ſtoͤ-<lb/>„rete; auch kein Menſch, bey dem nicht einige Gemuͤthsneigungen vor andern herrſchen; dieſe un-<lb/>„terſchiedlichen Leidenſchaften und Regungen haben am menſchlichen Leibe unterſchiedliche Theile,<lb/>„worinnen ſie hauptſaͤchlich wirken: alſo iſt es auch mit den Weibern; ſind ſie noch mit den Kin-<lb/>„dern ſchwanger, ſo druͤcken und ſtoͤren ihre Leidenſchaften ihre Geſundheit, und dieſe das Erzeug-<lb/>„te, ſo daß die Seele des Kindes nicht allezeit mit Freyheit den Bau des Koͤrpers verfertigen kann;<lb/>„koͤnnte aber die Seele des Menſchen in ſeiner Geſtaltung frey wirken, ſo wuͤrde er vollkommen<lb/>„ſchoͤn ſeyn. Darum gehoͤrt die Schoͤnheit auch zur Bedeutung der Macht der Seele, und giebt<lb/>„eine gute Meynung von dem Menſchen, in dem ſie gefunden wird. Weil die Seele aber oft ver-<lb/>„hindert wird, ſo werden ſelten ſchoͤne Menſchen erzeuget. Auch ſind die Voͤlker von unterſchiede-<lb/>„nen Lagen der Laͤnder, von unterſchiedenen Gemuͤthsregungen beherrſchet, und durch gewiſſe Ge-<lb/>„ſtalten bezeichnet. Daß die vollkommene Schoͤnheit ſich aber im Menſchen finden koͤnne, ſieht<lb/>„man daraus, daß faſt jeder Menſch einige Theile ſchoͤn hat, und daß die ſchoͤnſten Theile mit der<lb/>„Nuͤtzlichkeit und Urſache des Baues am meiſten uͤbereinſtimmen. Alſo wuͤrde der Menſch, haͤtten<lb/>„ihn nicht die Zufaͤlle verſtoͤret, gewiß ſchoͤn ſeyn. Jch rede vom Menſchen, als demjenigen Theile<lb/>„der ganzen Natur, worinnen die Schoͤnheit am meiſten erſcheint.“</p></div><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Erſtes</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[[392]/0474]
Aus Mengs. Zur Erfuͤllung des leeren Raums.
„Ob ſich ſchon die Schoͤnheit nie in der Natur vollkommen findet, ſo ſoll man doch nicht glau-
„ben, daß ſie ſich nicht finden koͤnne, und daß man die Geſetze der Wahrheit verlaſſen muͤſſe, um der
„Schoͤnheit nachzugehen; denn dieſes iſt nicht alſo. Die Natur hat alles auf ſolche Weiſe erſchaffen,
„daß es nach ſeiner Beſtimmung vollkommen ſeyn koͤnne. Weil aber die Vollkommenheit ſich alle-
„zeit der hoͤchſten Vollkommenheit naͤhert, ſo iſt ihrer wenig und des Unvollkommenen viel. Wie
„unter allen Steinen nur eine einzige Art vollkommen iſt, naͤmlich der Diamant; unter allen Me-
„tallen nur das Gold; unter allen lebendigen Geſchoͤpfen der Menſch; ſo iſt auch wieder in jedem
„Geſchlechte ein Unterſchied, und iſt des Vollkommenen ſehr wenig. Da der Menſch nicht von ſich
„ſelbſt hervorkoͤmmt, ſondern ſein Zuſtand ſchon im Mutterleibe, wenn er ſich geſtaltet, von aͤuſ-
„ſern Zufaͤllen abhaͤngt, ſo iſt faſt unmoͤglich, daß ein Menſch vollkommen ſchoͤn ſeyn koͤnne. Es
„iſt ſelten ein Menſch, der keine Leidenſchaft pruͤfete, ſo im Theile oder Ganzen die Geſundheit ſtoͤ-
„rete; auch kein Menſch, bey dem nicht einige Gemuͤthsneigungen vor andern herrſchen; dieſe un-
„terſchiedlichen Leidenſchaften und Regungen haben am menſchlichen Leibe unterſchiedliche Theile,
„worinnen ſie hauptſaͤchlich wirken: alſo iſt es auch mit den Weibern; ſind ſie noch mit den Kin-
„dern ſchwanger, ſo druͤcken und ſtoͤren ihre Leidenſchaften ihre Geſundheit, und dieſe das Erzeug-
„te, ſo daß die Seele des Kindes nicht allezeit mit Freyheit den Bau des Koͤrpers verfertigen kann;
„koͤnnte aber die Seele des Menſchen in ſeiner Geſtaltung frey wirken, ſo wuͤrde er vollkommen
„ſchoͤn ſeyn. Darum gehoͤrt die Schoͤnheit auch zur Bedeutung der Macht der Seele, und giebt
„eine gute Meynung von dem Menſchen, in dem ſie gefunden wird. Weil die Seele aber oft ver-
„hindert wird, ſo werden ſelten ſchoͤne Menſchen erzeuget. Auch ſind die Voͤlker von unterſchiede-
„nen Lagen der Laͤnder, von unterſchiedenen Gemuͤthsregungen beherrſchet, und durch gewiſſe Ge-
„ſtalten bezeichnet. Daß die vollkommene Schoͤnheit ſich aber im Menſchen finden koͤnne, ſieht
„man daraus, daß faſt jeder Menſch einige Theile ſchoͤn hat, und daß die ſchoͤnſten Theile mit der
„Nuͤtzlichkeit und Urſache des Baues am meiſten uͤbereinſtimmen. Alſo wuͤrde der Menſch, haͤtten
„ihn nicht die Zufaͤlle verſtoͤret, gewiß ſchoͤn ſeyn. Jch rede vom Menſchen, als demjenigen Theile
„der ganzen Natur, worinnen die Schoͤnheit am meiſten erſcheint.“
Erſtes
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. [392]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/474>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.