Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

Bild:
<< vorherige Seite
Beylagen.
Beylage D.
[Spaltenumbruch] [Abbildung] [Spaltenumbruch] [Abbildung]

Wenn ich eines Menschen Reichthum schätze, so zähle ich seine unstreitigen Besitzthümer,
die keine Prozeßsucht ihm abgewinnen kann. Wenn ich eines Menschen Talente und Verdienste
schätze, so setze ich fürs erste nur das an, was ihm kein Neid, kein Verstand und Unverstand abspre-
chen kann, und glaube dabey: wer sehr viel Großes hat, das man weiß, hat sehr wahrschein-
lich eben so viel Großes, das man nicht weiß! Viel sichtbar Großes ist doch immer nur
Bild und Siegel von viel unsichtbarem!
Kein Menschenkenner wird diese zwar kenntlichen
aber nicht sprechend genug gezeichneten Gesichter ansehen können, ohne zu sagen oder zu fühlen --
"Hier ist viel inne! verschiedene Gaben, aber große Gaben!" Poeten beyde! *) Männer von heller
und tiefer Einsicht beyde! originelle Schriftsteller und originelle Menschen beyde! Bodmers Stirn
noch viel bedeutender in der Natur gezeichnet; sein Auge, viel lebendiger und rollender, ist nicht un-
ter zehntausenden, sondern unter hunderttausenden das einzige in seiner Art. Wer sich der Aehnlichkeit
mit ihm nähert, hat Einbildungskraft, Geschmack an Natur und Schönheit des Nützlichen, und
Gabe zu wirken und darzustellen, mit leichter und leiser, schneller und unbetäubender Kraft. Die
Nase ist wahrhaftig weise! und auf der Lippe schwebt naiver attischer Scherz. -- Ernstere Weisheit
und die abwägendste Bedächtlichkeit schwebt auf Toblers Auge und auf seiner Lippe; auf seiner

Stirne
*) Doch viel mehr Poesie in Bodmers Stirn und Augenbraune.
Phys. Fragm. IV Versuch. B b b
Beylagen.
Beylage D.
[Spaltenumbruch] [Abbildung] [Spaltenumbruch] [Abbildung]

Wenn ich eines Menſchen Reichthum ſchaͤtze, ſo zaͤhle ich ſeine unſtreitigen Beſitzthuͤmer,
die keine Prozeßſucht ihm abgewinnen kann. Wenn ich eines Menſchen Talente und Verdienſte
ſchaͤtze, ſo ſetze ich fuͤrs erſte nur das an, was ihm kein Neid, kein Verſtand und Unverſtand abſpre-
chen kann, und glaube dabey: wer ſehr viel Großes hat, das man weiß, hat ſehr wahrſchein-
lich eben ſo viel Großes, das man nicht weiß! Viel ſichtbar Großes iſt doch immer nur
Bild und Siegel von viel unſichtbarem!
Kein Menſchenkenner wird dieſe zwar kenntlichen
aber nicht ſprechend genug gezeichneten Geſichter anſehen koͤnnen, ohne zu ſagen oder zu fuͤhlen —
„Hier iſt viel inne! verſchiedene Gaben, aber große Gaben!“ Poeten beyde! *) Maͤnner von heller
und tiefer Einſicht beyde! originelle Schriftſteller und originelle Menſchen beyde! Bodmers Stirn
noch viel bedeutender in der Natur gezeichnet; ſein Auge, viel lebendiger und rollender, iſt nicht un-
ter zehntauſenden, ſondern unter hunderttauſenden das einzige in ſeiner Art. Wer ſich der Aehnlichkeit
mit ihm naͤhert, hat Einbildungskraft, Geſchmack an Natur und Schoͤnheit des Nuͤtzlichen, und
Gabe zu wirken und darzuſtellen, mit leichter und leiſer, ſchneller und unbetaͤubender Kraft. Die
Naſe iſt wahrhaftig weiſe! und auf der Lippe ſchwebt naiver attiſcher Scherz. — Ernſtere Weisheit
und die abwaͤgendſte Bedaͤchtlichkeit ſchwebt auf Toblers Auge und auf ſeiner Lippe; auf ſeiner

Stirne
*) Doch viel mehr Poeſie in Bodmers Stirn und Augenbraune.
Phyſ. Fragm. IV Verſuch. B b b
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0455" n="377"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Beylagen</hi>.</hi> </fw><lb/>
            <div n="4">
              <head> <hi rendition="#b">Beylage <hi rendition="#aq">D.</hi></hi> </head><lb/>
              <cb/>
              <figure/>
              <cb/>
              <figure/>
              <p>Wenn ich eines Men&#x017F;chen Reichthum &#x017F;cha&#x0364;tze, &#x017F;o za&#x0364;hle ich &#x017F;eine un&#x017F;treitigen Be&#x017F;itzthu&#x0364;mer,<lb/>
die keine Prozeß&#x017F;ucht ihm abgewinnen kann. Wenn ich eines Men&#x017F;chen Talente und Verdien&#x017F;te<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;tze, &#x017F;o &#x017F;etze ich fu&#x0364;rs er&#x017F;te nur das an, was ihm kein Neid, kein Ver&#x017F;tand und Unver&#x017F;tand ab&#x017F;pre-<lb/>
chen kann, und glaube dabey: <hi rendition="#fr">wer &#x017F;ehr viel Großes hat, das man weiß, hat &#x017F;ehr wahr&#x017F;chein-<lb/>
lich eben &#x017F;o viel Großes, das man nicht weiß! Viel &#x017F;ichtbar Großes i&#x017F;t doch immer nur<lb/>
Bild und Siegel von viel un&#x017F;ichtbarem!</hi> Kein Men&#x017F;chenkenner wird die&#x017F;e zwar kenntlichen<lb/>
aber nicht &#x017F;prechend genug gezeichneten Ge&#x017F;ichter an&#x017F;ehen ko&#x0364;nnen, ohne zu &#x017F;agen oder zu fu&#x0364;hlen &#x2014;<lb/>
&#x201E;Hier i&#x017F;t viel inne! ver&#x017F;chiedene Gaben, aber große Gaben!&#x201C; Poeten beyde! <note place="foot" n="*)">Doch viel mehr Poe&#x017F;ie in Bodmers Stirn und Augenbraune.</note> Ma&#x0364;nner von heller<lb/>
und tiefer Ein&#x017F;icht beyde! originelle Schrift&#x017F;teller und originelle Men&#x017F;chen beyde! <hi rendition="#fr">Bodmers</hi> Stirn<lb/>
noch viel bedeutender in der Natur gezeichnet; &#x017F;ein Auge, viel lebendiger und rollender, i&#x017F;t nicht un-<lb/>
ter zehntau&#x017F;enden, &#x017F;ondern unter hunderttau&#x017F;enden das einzige in &#x017F;einer Art. Wer &#x017F;ich der Aehnlichkeit<lb/>
mit ihm na&#x0364;hert, hat Einbildungskraft, Ge&#x017F;chmack an Natur und Scho&#x0364;nheit des Nu&#x0364;tzlichen, und<lb/>
Gabe zu wirken und darzu&#x017F;tellen, mit leichter und lei&#x017F;er, &#x017F;chneller und unbeta&#x0364;ubender Kraft. Die<lb/>
Na&#x017F;e i&#x017F;t wahrhaftig wei&#x017F;e! und auf der Lippe &#x017F;chwebt naiver atti&#x017F;cher Scherz. &#x2014; Ern&#x017F;tere Weisheit<lb/>
und die abwa&#x0364;gend&#x017F;te Beda&#x0364;chtlichkeit &#x017F;chwebt auf <hi rendition="#fr">Toblers</hi> Auge und auf &#x017F;einer Lippe; auf &#x017F;einer<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Stirne</fw><lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phy&#x017F;. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">IV</hi><hi rendition="#fr">Ver&#x017F;uch.</hi> B b b</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[377/0455] Beylagen. Beylage D. [Abbildung] [Abbildung] Wenn ich eines Menſchen Reichthum ſchaͤtze, ſo zaͤhle ich ſeine unſtreitigen Beſitzthuͤmer, die keine Prozeßſucht ihm abgewinnen kann. Wenn ich eines Menſchen Talente und Verdienſte ſchaͤtze, ſo ſetze ich fuͤrs erſte nur das an, was ihm kein Neid, kein Verſtand und Unverſtand abſpre- chen kann, und glaube dabey: wer ſehr viel Großes hat, das man weiß, hat ſehr wahrſchein- lich eben ſo viel Großes, das man nicht weiß! Viel ſichtbar Großes iſt doch immer nur Bild und Siegel von viel unſichtbarem! Kein Menſchenkenner wird dieſe zwar kenntlichen aber nicht ſprechend genug gezeichneten Geſichter anſehen koͤnnen, ohne zu ſagen oder zu fuͤhlen — „Hier iſt viel inne! verſchiedene Gaben, aber große Gaben!“ Poeten beyde! *) Maͤnner von heller und tiefer Einſicht beyde! originelle Schriftſteller und originelle Menſchen beyde! Bodmers Stirn noch viel bedeutender in der Natur gezeichnet; ſein Auge, viel lebendiger und rollender, iſt nicht un- ter zehntauſenden, ſondern unter hunderttauſenden das einzige in ſeiner Art. Wer ſich der Aehnlichkeit mit ihm naͤhert, hat Einbildungskraft, Geſchmack an Natur und Schoͤnheit des Nuͤtzlichen, und Gabe zu wirken und darzuſtellen, mit leichter und leiſer, ſchneller und unbetaͤubender Kraft. Die Naſe iſt wahrhaftig weiſe! und auf der Lippe ſchwebt naiver attiſcher Scherz. — Ernſtere Weisheit und die abwaͤgendſte Bedaͤchtlichkeit ſchwebt auf Toblers Auge und auf ſeiner Lippe; auf ſeiner Stirne *) Doch viel mehr Poeſie in Bodmers Stirn und Augenbraune. Phyſ. Fragm. IV Verſuch. B b b

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/455
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/455>, abgerufen am 17.11.2024.