Nicht alle breite, hohe, geräumige Stirnen haben ein gutes Gedächtniß. Nicht, wenn die Haut zähe, hart angezogen, bräunlicht ist; nicht, wenn die Stirne geradlinigt und schief ist. Es giebt so vielerley Arten des Gedächtnisses als des Verstandes. Daher kein allgemeines einzelnes Zeichen eines guten Gedächtnisses möglich ist; sondern nur allgemeine Zeichen von gewissen beson- dern Arten des Gedächtnisses. Es giebt Gedächtnisse, die nur Namen ohne Zusammenhang leicht behalten; Gedächtnisse, die nur abstrakte Zeichen, nur Bilder, nur Ketten von Schlüssen, nur poe- tische Tiraden, nur dramatische Scenen, nur romanhafte Geschichte, nur verwickelte Historien be- halten.
Zweytes Fragment. Verschiedene Geisteskräfte.
Wie es die verschiedensten Arten des Gedächtnisses giebt, so die verschiedensten Arten der Gei- steskräfte; der Erkenntniß. Einige empfinden, einige ahnden, einige sehen, einige finden, einige berühren, einige ergreifen die Wahrheit. Dem Einen erscheint die Wahrheit nur in den Dingen selbst. Einigen in ähnlichen Bildern. Einigen nur in symbolischen Zeichen. Einige haben nur Verstand, nur Vernunft andere, Wahrheitssinn die dritten. Einige Geschicklichkei- ten, ohne daß man ihnen ein großes Maaß von Verstand, Vernunft, Wahrheitssinn zuschreiben kann. Einige haben sogar Genie, ohne Vernunft und Verstand zu haben. Man kann viel Ver- stand und keine Vernunft, viel Vernunft und keinen Verstand haben. Vernunft ist mehr richtige Kenntniß der Verhältnisse der Dinge; Verstand bezieht sich mehr auf den Charakter einzelner Dinge, und die Bedeutung der Zeichen der Dinge. -- Klugheit ist ein Gemisch von Ver- stand -- Vernunft und Jmagination. Jch kenne sehr viele große Denker ohne Klugheit. Klug- heit ist Sinn für Wirkung und Erfolg. Sein Leben ist Jmagination; seine Nahrung -- Er- fahrung.
Hellseher, Vernunftshelden, ohne entwickelnden abstrahirenden Tiefsinn, haben gemei- niglich Elephantenartige Stirnen. Stirnen, die flachhautig, sanft gewölbt zurückgehend sind, und aus
zwey
VII. Abſchnitt. II. Fragment.
Nicht alle breite, hohe, geraͤumige Stirnen haben ein gutes Gedaͤchtniß. Nicht, wenn die Haut zaͤhe, hart angezogen, braͤunlicht iſt; nicht, wenn die Stirne geradlinigt und ſchief iſt. Es giebt ſo vielerley Arten des Gedaͤchtniſſes als des Verſtandes. Daher kein allgemeines einzelnes Zeichen eines guten Gedaͤchtniſſes moͤglich iſt; ſondern nur allgemeine Zeichen von gewiſſen beſon- dern Arten des Gedaͤchtniſſes. Es giebt Gedaͤchtniſſe, die nur Namen ohne Zuſammenhang leicht behalten; Gedaͤchtniſſe, die nur abſtrakte Zeichen, nur Bilder, nur Ketten von Schluͤſſen, nur poe- tiſche Tiraden, nur dramatiſche Scenen, nur romanhafte Geſchichte, nur verwickelte Hiſtorien be- halten.
Zweytes Fragment. Verſchiedene Geiſteskraͤfte.
Wie es die verſchiedenſten Arten des Gedaͤchtniſſes giebt, ſo die verſchiedenſten Arten der Gei- ſteskraͤfte; der Erkenntniß. Einige empfinden, einige ahnden, einige ſehen, einige finden, einige beruͤhren, einige ergreifen die Wahrheit. Dem Einen erſcheint die Wahrheit nur in den Dingen ſelbſt. Einigen in aͤhnlichen Bildern. Einigen nur in ſymboliſchen Zeichen. Einige haben nur Verſtand, nur Vernunft andere, Wahrheitsſinn die dritten. Einige Geſchicklichkei- ten, ohne daß man ihnen ein großes Maaß von Verſtand, Vernunft, Wahrheitsſinn zuſchreiben kann. Einige haben ſogar Genie, ohne Vernunft und Verſtand zu haben. Man kann viel Ver- ſtand und keine Vernunft, viel Vernunft und keinen Verſtand haben. Vernunft iſt mehr richtige Kenntniß der Verhaͤltniſſe der Dinge; Verſtand bezieht ſich mehr auf den Charakter einzelner Dinge, und die Bedeutung der Zeichen der Dinge. — Klugheit iſt ein Gemiſch von Ver- ſtand — Vernunft und Jmagination. Jch kenne ſehr viele große Denker ohne Klugheit. Klug- heit iſt Sinn fuͤr Wirkung und Erfolg. Sein Leben iſt Jmagination; ſeine Nahrung — Er- fahrung.
Hellſeher, Vernunftshelden, ohne entwickelnden abſtrahirenden Tiefſinn, haben gemei- niglich Elephantenartige Stirnen. Stirnen, die flachhautig, ſanft gewoͤlbt zuruͤckgehend ſind, und aus
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VII. Abſchnitt. II. Fragment.
Nicht alle breite, hohe, geraͤumige Stirnen haben ein gutes Gedaͤchtniß. Nicht, wenn die
Haut zaͤhe, hart angezogen, braͤunlicht iſt; nicht, wenn die Stirne geradlinigt und ſchief iſt. Es
giebt ſo vielerley Arten des Gedaͤchtniſſes als des Verſtandes. Daher kein allgemeines einzelnes
Zeichen eines guten Gedaͤchtniſſes moͤglich iſt; ſondern nur allgemeine Zeichen von gewiſſen beſon-
dern Arten des Gedaͤchtniſſes. Es giebt Gedaͤchtniſſe, die nur Namen ohne Zuſammenhang leicht
behalten; Gedaͤchtniſſe, die nur abſtrakte Zeichen, nur Bilder, nur Ketten von Schluͤſſen, nur poe-
tiſche Tiraden, nur dramatiſche Scenen, nur romanhafte Geſchichte, nur verwickelte Hiſtorien be-
halten.
Zweytes Fragment.
Verſchiedene Geiſteskraͤfte.
Wie es die verſchiedenſten Arten des Gedaͤchtniſſes giebt, ſo die verſchiedenſten Arten der Gei-
ſteskraͤfte; der Erkenntniß. Einige empfinden, einige ahnden, einige ſehen, einige finden, einige
beruͤhren, einige ergreifen die Wahrheit. Dem Einen erſcheint die Wahrheit nur in den Dingen
ſelbſt. Einigen in aͤhnlichen Bildern. Einigen nur in ſymboliſchen Zeichen. Einige haben
nur Verſtand, nur Vernunft andere, Wahrheitsſinn die dritten. Einige Geſchicklichkei-
ten, ohne daß man ihnen ein großes Maaß von Verſtand, Vernunft, Wahrheitsſinn zuſchreiben
kann. Einige haben ſogar Genie, ohne Vernunft und Verſtand zu haben. Man kann viel Ver-
ſtand und keine Vernunft, viel Vernunft und keinen Verſtand haben. Vernunft iſt mehr richtige
Kenntniß der Verhaͤltniſſe der Dinge; Verſtand bezieht ſich mehr auf den Charakter einzelner
Dinge, und die Bedeutung der Zeichen der Dinge. — Klugheit iſt ein Gemiſch von Ver-
ſtand — Vernunft und Jmagination. Jch kenne ſehr viele große Denker ohne Klugheit. Klug-
heit iſt Sinn fuͤr Wirkung und Erfolg. Sein Leben iſt Jmagination; ſeine Nahrung — Er-
fahrung.
Hellſeher, Vernunftshelden, ohne entwickelnden abſtrahirenden Tiefſinn, haben gemei-
niglich Elephantenartige Stirnen. Stirnen, die flachhautig, ſanft gewoͤlbt zuruͤckgehend ſind, und aus
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/448>, abgerufen am 17.11.2024.
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