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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Erstes Fragment.
Einige Kennzeichen des Gedächtnisses.

Gedächtniß ist die Fähigkeit, willkührliche Zeichen, die man gehört oder gelesen hat, so
wie Einbildungskraft Vermögen ist, Bilder, die man gesehen hat, sich so zu vergegenwärtigen,
wie in dem Momente des Hörens und Sehens.

Wenn unser Verstand die Zeichen der Dinge und der Empfindungen ordnet, so spüren wir
in der Gegend zwischen oder etwas über den Augenbraunen eine Bewegung. Da also, können wir
sagen, ist der eigentliche Sitz des Verstandes. Wo seine Organen sind, da ist sein Sitz. Daher
ich in dieser Gegend den Charakter und das Maaß des Verstandes mit sehr gutem Erfolge aufzusu-
chen pflege. Gedächtniß hingegen und Jmagination haben offenbar in den höhern Gegenden der
Stirn ihren Sitz. Allgemeine Kennzeichen der Gedächtnißkraft habe ich schon lange gesucht. Hier
ist, was ich fand.

Hohe, länglichte, von vornen anzusehen gevierte # Stirnen; wie z. E. Casaubon,
Scaliger, Lipsius,
drey der portentosesten Gedächtnißhelden, haben. Lockere, weißlichte, flei-
schigte Stirnhaut auf einer geräumigen, unscharfen Stirne .. Magliabechius, ein Gelehrter von
unermeßlichem Gedächtnisse, hat eine sehr zurückliegende, und zugleich sehr hautige, faltige Stirn. *)

An zween Knaben von außerordentlichem Gedächtnisse, und sonst an keinen Kindern, deren
sehr vielen ich den Schädel rings herum betastete, fand ich oben am Schädel ungefähr bey der Sutur
eine Queervertiefung -- mithin oben an der Stirne ein kleines Gewölbe, so daß der Schädel im
Profile sich ungefähr so zeichnete. [Abbildung] Manchen Knaben von glücklichem Gedächtnisse fehlt dieß
Zeichen. Aber diese beyden haben nicht nur ein glückliches, sondern ein außerordentliches Gedächt-
niß -- und sind dabey ungewöhnlich flüchtig und hartknochig.

Nicht
*) Hallers Silhouette im I. Theile kann uns eine
Stirn von dem außerordentlichsten Gedächtnisse zeigen.
Jammer schade, wenn man keinen Abguß von seinem
für die Physiognomik so interessanten Gesichte gemacht
[Spaltenumbruch] hat -- Abguß von seiner Stirne, gemessen und be-
stimmt -- wie sicher könnte er uns ein Maaßstab der
Gedächtnisse werden.
A a a 2
Erſtes Fragment.
Einige Kennzeichen des Gedaͤchtniſſes.

Gedaͤchtniß iſt die Faͤhigkeit, willkuͤhrliche Zeichen, die man gehoͤrt oder geleſen hat, ſo
wie Einbildungskraft Vermoͤgen iſt, Bilder, die man geſehen hat, ſich ſo zu vergegenwaͤrtigen,
wie in dem Momente des Hoͤrens und Sehens.

Wenn unſer Verſtand die Zeichen der Dinge und der Empfindungen ordnet, ſo ſpuͤren wir
in der Gegend zwiſchen oder etwas uͤber den Augenbraunen eine Bewegung. Da alſo, koͤnnen wir
ſagen, iſt der eigentliche Sitz des Verſtandes. Wo ſeine Organen ſind, da iſt ſein Sitz. Daher
ich in dieſer Gegend den Charakter und das Maaß des Verſtandes mit ſehr gutem Erfolge aufzuſu-
chen pflege. Gedaͤchtniß hingegen und Jmagination haben offenbar in den hoͤhern Gegenden der
Stirn ihren Sitz. Allgemeine Kennzeichen der Gedaͤchtnißkraft habe ich ſchon lange geſucht. Hier
iſt, was ich fand.

Hohe, laͤnglichte, von vornen anzuſehen gevierte □ Stirnen; wie z. E. Caſaubon,
Scaliger, Lipſius,
drey der portentoſeſten Gedaͤchtnißhelden, haben. Lockere, weißlichte, flei-
ſchigte Stirnhaut auf einer geraͤumigen, unſcharfen Stirne .. Magliabechius, ein Gelehrter von
unermeßlichem Gedaͤchtniſſe, hat eine ſehr zuruͤckliegende, und zugleich ſehr hautige, faltige Stirn. *)

An zween Knaben von außerordentlichem Gedaͤchtniſſe, und ſonſt an keinen Kindern, deren
ſehr vielen ich den Schaͤdel rings herum betaſtete, fand ich oben am Schaͤdel ungefaͤhr bey der Sutur
eine Queervertiefung — mithin oben an der Stirne ein kleines Gewoͤlbe, ſo daß der Schaͤdel im
Profile ſich ungefaͤhr ſo zeichnete. [Abbildung] Manchen Knaben von gluͤcklichem Gedaͤchtniſſe fehlt dieß
Zeichen. Aber dieſe beyden haben nicht nur ein gluͤckliches, ſondern ein außerordentliches Gedaͤcht-
niß — und ſind dabey ungewoͤhnlich fluͤchtig und hartknochig.

Nicht
*) Hallers Silhouette im I. Theile kann uns eine
Stirn von dem außerordentlichſten Gedaͤchtniſſe zeigen.
Jammer ſchade, wenn man keinen Abguß von ſeinem
fuͤr die Phyſiognomik ſo intereſſanten Geſichte gemacht
[Spaltenumbruch] hat — Abguß von ſeiner Stirne, gemeſſen und be-
ſtimmt — wie ſicher koͤnnte er uns ein Maaßſtab der
Gedaͤchtniſſe werden.
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[371/0447] Erſtes Fragment. Einige Kennzeichen des Gedaͤchtniſſes. Gedaͤchtniß iſt die Faͤhigkeit, willkuͤhrliche Zeichen, die man gehoͤrt oder geleſen hat, ſo wie Einbildungskraft Vermoͤgen iſt, Bilder, die man geſehen hat, ſich ſo zu vergegenwaͤrtigen, wie in dem Momente des Hoͤrens und Sehens. Wenn unſer Verſtand die Zeichen der Dinge und der Empfindungen ordnet, ſo ſpuͤren wir in der Gegend zwiſchen oder etwas uͤber den Augenbraunen eine Bewegung. Da alſo, koͤnnen wir ſagen, iſt der eigentliche Sitz des Verſtandes. Wo ſeine Organen ſind, da iſt ſein Sitz. Daher ich in dieſer Gegend den Charakter und das Maaß des Verſtandes mit ſehr gutem Erfolge aufzuſu- chen pflege. Gedaͤchtniß hingegen und Jmagination haben offenbar in den hoͤhern Gegenden der Stirn ihren Sitz. Allgemeine Kennzeichen der Gedaͤchtnißkraft habe ich ſchon lange geſucht. Hier iſt, was ich fand. Hohe, laͤnglichte, von vornen anzuſehen gevierte □ Stirnen; wie z. E. Caſaubon, Scaliger, Lipſius, drey der portentoſeſten Gedaͤchtnißhelden, haben. Lockere, weißlichte, flei- ſchigte Stirnhaut auf einer geraͤumigen, unſcharfen Stirne .. Magliabechius, ein Gelehrter von unermeßlichem Gedaͤchtniſſe, hat eine ſehr zuruͤckliegende, und zugleich ſehr hautige, faltige Stirn. *) An zween Knaben von außerordentlichem Gedaͤchtniſſe, und ſonſt an keinen Kindern, deren ſehr vielen ich den Schaͤdel rings herum betaſtete, fand ich oben am Schaͤdel ungefaͤhr bey der Sutur eine Queervertiefung — mithin oben an der Stirne ein kleines Gewoͤlbe, ſo daß der Schaͤdel im Profile ſich ungefaͤhr ſo zeichnete. [Abbildung] Manchen Knaben von gluͤcklichem Gedaͤchtniſſe fehlt dieß Zeichen. Aber dieſe beyden haben nicht nur ein gluͤckliches, ſondern ein außerordentliches Gedaͤcht- niß — und ſind dabey ungewoͤhnlich fluͤchtig und hartknochig. Nicht *) Hallers Silhouette im I. Theile kann uns eine Stirn von dem außerordentlichſten Gedaͤchtniſſe zeigen. Jammer ſchade, wenn man keinen Abguß von ſeinem fuͤr die Phyſiognomik ſo intereſſanten Geſichte gemacht hat — Abguß von ſeiner Stirne, gemeſſen und be- ſtimmt — wie ſicher koͤnnte er uns ein Maaßſtab der Gedaͤchtniſſe werden. A a a 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/447>, abgerufen am 17.11.2024.