Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Von den Temperamenten. Drittes Fragment. Beschluß. Jch weiß und bekenne die äußerste Unvollständigkeit dieser Gedanken über die Temperamente. Und nun noch eine kurze Anzeige von einigen Punkten, die meinem Fragmente mangeln -- 1) Kann und soll ein Mensch sein Temperament verlieren, oder ganz unterjochen? Verhält es sich mit den Temperamenten anders, als mit unsern Sinnen und Gliedern? Jst nicht, wie alle Kreatur Gottes, so auch jede Kraft der Kreatur gut? Fordert die Religion mehr, als Mäßigung des Unmäßigen, das ist, dessen, was das Leben anderer auch guter Kräfte im Menschen hemmt und erstickt? Fordert sie mehr, als die Wechselung der Gegenstände unserer Leidenschaften? 2) Wie muß ein Vater einen cholerischen Sohn, eine sanguinische Mutter eine melancho- lische Tochter -- ein phlegmatischer Freund einen cholerischen -- kurz, wie ein Temperament das andere behandeln und leiten? 3) Welche Temperamente schicken sich zur Freundschaft? 4) Welche sind zusammen glücklich in der Ehe? 5) Welche können durchaus nicht unmittelbar neben einander bestehen? 6) Was kann und soll von jedem Temperamente gefordert, welche Arten der Beschäffti- gungen und Vergnügungen sollen jedem angewiesen werden? Welche Freunde und Feinde sind je- dem zur Auf- und Abspannung zu wünschen und zur Seite zu stellen? 7) Jst irgend eine gefährliche Eigenschaft eines Temperamentes anzugeben, die nicht durch eine vortreffliche desselben Temperamentes vergütet werde? 8) Wie unterscheiden sich die Züge desselben Temperamentes in verschiedenem Alter und Geschlechtern der Menschen? Viertes Y y 3
Von den Temperamenten. Drittes Fragment. Beſchluß. Jch weiß und bekenne die aͤußerſte Unvollſtaͤndigkeit dieſer Gedanken uͤber die Temperamente. Und nun noch eine kurze Anzeige von einigen Punkten, die meinem Fragmente mangeln — 1) Kann und ſoll ein Menſch ſein Temperament verlieren, oder ganz unterjochen? Verhaͤlt es ſich mit den Temperamenten anders, als mit unſern Sinnen und Gliedern? Jſt nicht, wie alle Kreatur Gottes, ſo auch jede Kraft der Kreatur gut? Fordert die Religion mehr, als Maͤßigung des Unmaͤßigen, das iſt, deſſen, was das Leben anderer auch guter Kraͤfte im Menſchen hemmt und erſtickt? Fordert ſie mehr, als die Wechſelung der Gegenſtaͤnde unſerer Leidenſchaften? 2) Wie muß ein Vater einen choleriſchen Sohn, eine ſanguiniſche Mutter eine melancho- liſche Tochter — ein phlegmatiſcher Freund einen choleriſchen — kurz, wie ein Temperament das andere behandeln und leiten? 3) Welche Temperamente ſchicken ſich zur Freundſchaft? 4) Welche ſind zuſammen gluͤcklich in der Ehe? 5) Welche koͤnnen durchaus nicht unmittelbar neben einander beſtehen? 6) Was kann und ſoll von jedem Temperamente gefordert, welche Arten der Beſchaͤffti- gungen und Vergnuͤgungen ſollen jedem angewieſen werden? Welche Freunde und Feinde ſind je- dem zur Auf- und Abſpannung zu wuͤnſchen und zur Seite zu ſtellen? 7) Jſt irgend eine gefaͤhrliche Eigenſchaft eines Temperamentes anzugeben, die nicht durch eine vortreffliche deſſelben Temperamentes verguͤtet werde? 8) Wie unterſcheiden ſich die Zuͤge deſſelben Temperamentes in verſchiedenem Alter und Geſchlechtern der Menſchen? Viertes Y y 3
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Von den Temperamenten.
Drittes Fragment.
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Jch weiß und bekenne die aͤußerſte Unvollſtaͤndigkeit dieſer Gedanken uͤber die Temperamente.
Was indeſſen ſchon tauſendmal daruͤber geſagt worden, wollte ich nicht wiederholen. Nur dieß will
ich noch beyfuͤgen: Jch hoffe, daß ſich vermittelſt des Stirnmaßes beſtimmte Zeichen, Umriſſe,
Linien, Charakter der Reizbarkeit fuͤr alle Hauptklaſſen der Dinge finden laſſen; finden laſſen
Verhaͤltniſſe aller menſchlichen Stirnumriſſe zu allen andern Geſtalten, die immer dem
menſchlichen Auge erſcheinen, oder ſich dem menſchlichen Gefuͤhle naͤhern moͤgen.
Und nun noch eine kurze Anzeige von einigen Punkten, die meinem Fragmente mangeln —
Einige Fragen, die ich von der Erfahrung und Weisheit einiger guten Menſchen beantwertet
wuͤnſchte.
1) Kann und ſoll ein Menſch ſein Temperament verlieren, oder ganz unterjochen? Verhaͤlt
es ſich mit den Temperamenten anders, als mit unſern Sinnen und Gliedern? Jſt nicht, wie alle
Kreatur Gottes, ſo auch jede Kraft der Kreatur gut? Fordert die Religion mehr, als Maͤßigung
des Unmaͤßigen, das iſt, deſſen, was das Leben anderer auch guter Kraͤfte im Menſchen hemmt
und erſtickt? Fordert ſie mehr, als die Wechſelung der Gegenſtaͤnde unſerer Leidenſchaften?
2) Wie muß ein Vater einen choleriſchen Sohn, eine ſanguiniſche Mutter eine melancho-
liſche Tochter — ein phlegmatiſcher Freund einen choleriſchen — kurz, wie ein Temperament das
andere behandeln und leiten?
3) Welche Temperamente ſchicken ſich zur Freundſchaft?
4) Welche ſind zuſammen gluͤcklich in der Ehe?
5) Welche koͤnnen durchaus nicht unmittelbar neben einander beſtehen?
6) Was kann und ſoll von jedem Temperamente gefordert, welche Arten der Beſchaͤffti-
gungen und Vergnuͤgungen ſollen jedem angewieſen werden? Welche Freunde und Feinde ſind je-
dem zur Auf- und Abſpannung zu wuͤnſchen und zur Seite zu ſtellen?
7) Jſt irgend eine gefaͤhrliche Eigenſchaft eines Temperamentes anzugeben, die nicht durch
eine vortreffliche deſſelben Temperamentes verguͤtet werde?
8) Wie unterſcheiden ſich die Zuͤge deſſelben Temperamentes in verſchiedenem Alter und
Geſchlechtern der Menſchen?
Viertes
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