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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Schriftstellen.
"es ist, die ihn angerührt: denn sie ist eine Sünderinn." Luc. VII. 39. -- Wenn dieser ein
Physiognom wäre, so wüßte er freylich -- wer dieser oder jener ist, den er duldet; dem er giebt
und hilft -- denn er ist ein Sünder -- und der Physiognom ist auch einer -- und ist wie sein Gott
auch gegen Undankbare und Boshafte gütig, und ist ein Mensch, so gut wenigstens als die Zöllner
und Sünder -- die wenigstens die lieben, die sie lieben -- und vielleicht ein Christ, der die
segnet, von denen er weiß, daß sie ihm fluchen -- und für die bittet, die ihn beleidigen und
verfolgen.

15.

Das Leben ist mehr, denn die Speise; und der Leib mehr, denn die Kleidung.
Luc. XII. 23. Gestalt ist mehr, als Miene! Anlage mehr, als Zufälligkeiten. Wer gute Anlagen
gab -- giebt auch gute Gelegenheit zur Ausbildung -- Man kann sie aber wie ein Kleid annehmen
oder wegwerfen.

16.

Siehe! ich komme nun drey Jahre, und suche Frucht an diesem Feigenbaum,
und finde keine. Hau ihn ab, warum macht er das Erdreich unnütz?
Luc. XIII. 7. --
Wie viel darf der Herr von gewissen Gesichtern fordern? und wenn sie ihre Frucht nicht geben --
was wird er ihnen thun?

17.

Es ist ein gut Ding um das Salz -- aber wenn's seine Kraft *) verliert, womit
wird man salzen? Es ist weder auf das Erdreich, noch auf den Mist bequem. Man
wirft es hinaus. Wer Ohren hat zu hören, der höre.
Luc. XIV. 34. -- Es ist ein gut
Ding um ein geistreiches Gesicht. Wenn's aber seinen Geist verliert -- wer wird's wieder begei-
stern. Es taugt weder für Himmel noch Erde.

18.

Jhr richtet nach dem Fleische. Jch richte niemand. Joh. VIII. 15. -- Sie richteten
nach dem Fleische -- und sahen den Geist seines Gesichtes nicht; sahen nur den Galliläer, nicht den
Menschen; verdammten den Menschen um des Galliläers willen. So richtete Jesus nicht.

Und
*) Seine Räße. Ein Schweizerwort, das den Deutschen mangelt.

Schriftſtellen.
„es iſt, die ihn angeruͤhrt: denn ſie iſt eine Suͤnderinn.“ Luc. VII. 39. — Wenn dieſer ein
Phyſiognom waͤre, ſo wuͤßte er freylich — wer dieſer oder jener iſt, den er duldet; dem er giebt
und hilft — denn er iſt ein Suͤnder — und der Phyſiognom iſt auch einer — und iſt wie ſein Gott
auch gegen Undankbare und Boshafte guͤtig, und iſt ein Menſch, ſo gut wenigſtens als die Zoͤllner
und Suͤnder — die wenigſtens die lieben, die ſie lieben — und vielleicht ein Chriſt, der die
ſegnet, von denen er weiß, daß ſie ihm fluchen — und fuͤr die bittet, die ihn beleidigen und
verfolgen.

15.

Das Leben iſt mehr, denn die Speiſe; und der Leib mehr, denn die Kleidung.
Luc. XII. 23. Geſtalt iſt mehr, als Miene! Anlage mehr, als Zufaͤlligkeiten. Wer gute Anlagen
gab — giebt auch gute Gelegenheit zur Ausbildung — Man kann ſie aber wie ein Kleid annehmen
oder wegwerfen.

16.

Siehe! ich komme nun drey Jahre, und ſuche Frucht an dieſem Feigenbaum,
und finde keine. Hau ihn ab, warum macht er das Erdreich unnuͤtz?
Luc. XIII. 7. —
Wie viel darf der Herr von gewiſſen Geſichtern fordern? und wenn ſie ihre Frucht nicht geben —
was wird er ihnen thun?

17.

Es iſt ein gut Ding um das Salz — aber wenn’s ſeine Kraft *) verliert, womit
wird man ſalzen? Es iſt weder auf das Erdreich, noch auf den Miſt bequem. Man
wirft es hinaus. Wer Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre.
Luc. XIV. 34. — Es iſt ein gut
Ding um ein geiſtreiches Geſicht. Wenn’s aber ſeinen Geiſt verliert — wer wird’s wieder begei-
ſtern. Es taugt weder fuͤr Himmel noch Erde.

18.

Jhr richtet nach dem Fleiſche. Jch richte niemand. Joh. VIII. 15. — Sie richteten
nach dem Fleiſche — und ſahen den Geiſt ſeines Geſichtes nicht; ſahen nur den Gallilaͤer, nicht den
Menſchen; verdammten den Menſchen um des Gallilaͤers willen. So richtete Jeſus nicht.

Und
*) Seine Raͤße. Ein Schweizerwort, das den Deutſchen mangelt.
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[207/0237] Schriftſtellen. „es iſt, die ihn angeruͤhrt: denn ſie iſt eine Suͤnderinn.“ Luc. VII. 39. — Wenn dieſer ein Phyſiognom waͤre, ſo wuͤßte er freylich — wer dieſer oder jener iſt, den er duldet; dem er giebt und hilft — denn er iſt ein Suͤnder — und der Phyſiognom iſt auch einer — und iſt wie ſein Gott auch gegen Undankbare und Boshafte guͤtig, und iſt ein Menſch, ſo gut wenigſtens als die Zoͤllner und Suͤnder — die wenigſtens die lieben, die ſie lieben — und vielleicht ein Chriſt, der die ſegnet, von denen er weiß, daß ſie ihm fluchen — und fuͤr die bittet, die ihn beleidigen und verfolgen. 15. Das Leben iſt mehr, denn die Speiſe; und der Leib mehr, denn die Kleidung. Luc. XII. 23. Geſtalt iſt mehr, als Miene! Anlage mehr, als Zufaͤlligkeiten. Wer gute Anlagen gab — giebt auch gute Gelegenheit zur Ausbildung — Man kann ſie aber wie ein Kleid annehmen oder wegwerfen. 16. Siehe! ich komme nun drey Jahre, und ſuche Frucht an dieſem Feigenbaum, und finde keine. Hau ihn ab, warum macht er das Erdreich unnuͤtz? Luc. XIII. 7. — Wie viel darf der Herr von gewiſſen Geſichtern fordern? und wenn ſie ihre Frucht nicht geben — was wird er ihnen thun? 17. Es iſt ein gut Ding um das Salz — aber wenn’s ſeine Kraft *) verliert, womit wird man ſalzen? Es iſt weder auf das Erdreich, noch auf den Miſt bequem. Man wirft es hinaus. Wer Ohren hat zu hoͤren, der hoͤre. Luc. XIV. 34. — Es iſt ein gut Ding um ein geiſtreiches Geſicht. Wenn’s aber ſeinen Geiſt verliert — wer wird’s wieder begei- ſtern. Es taugt weder fuͤr Himmel noch Erde. 18. Jhr richtet nach dem Fleiſche. Jch richte niemand. Joh. VIII. 15. — Sie richteten nach dem Fleiſche — und ſahen den Geiſt ſeines Geſichtes nicht; ſahen nur den Gallilaͤer, nicht den Menſchen; verdammten den Menſchen um des Gallilaͤers willen. So richtete Jeſus nicht. Und *) Seine Raͤße. Ein Schweizerwort, das den Deutſchen mangelt.

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/237>, abgerufen am 17.11.2024.