Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.Schriftstellen. schen lassen; Wunden, die sich heilen lassen; auch nicht einmal unaustilgbare Narben -- verunrei-nigen dem Auge des Physiognomen ein Gesicht. So wie keine Schminke es ihm verschönert -- und ob du dich gleich mit Nitro wüschest, und mit Borith wohlriechend machtest, wärest du doch in seinen Augen ein Greuel -- wenn aus dem Herzen in die Züge und Mienen treten böse Gedanken, Hurerey, Ehebruch, Unkeuschheit, Neid, Bosheit, Schalkheit, Verläum- dung, Bitterkeit, Todtschlag. Es giebt einen physiognomischen wie einen religiösen Pharisäis- mus -- und vermuthlich sind beyde im Grunde Eins. Laßt michs oft wiederholen: Reinige das Jnnwendige -- so ist das Aeußere alles rein. 9. Was vor den Menschen hoch ist, das ist vor Gott ein Greuel. Luc. XVI. 15. So viele Gestalten sind geweißten Gräbern gleich. Man sieht die Todtengebeine nicht -- Jhr scheint auswendig vor den Menschen gerecht; aber innwendig seyd ihr voll 10. Wahrlich ich sage euch: es werden den Menschenkindern alle Sünden und Lä- Wer einen Menschen mißkennt, seines Angesichtes Unschuld nicht fühlt; nicht fühlt seine Menschen- C c 3
Schriftſtellen. ſchen laſſen; Wunden, die ſich heilen laſſen; auch nicht einmal unaustilgbare Narben — verunrei-nigen dem Auge des Phyſiognomen ein Geſicht. So wie keine Schminke es ihm verſchoͤnert — und ob du dich gleich mit Nitro wuͤſcheſt, und mit Borith wohlriechend machteſt, waͤreſt du doch in ſeinen Augen ein Greuel — wenn aus dem Herzen in die Zuͤge und Mienen treten boͤſe Gedanken, Hurerey, Ehebruch, Unkeuſchheit, Neid, Bosheit, Schalkheit, Verlaͤum- dung, Bitterkeit, Todtſchlag. Es giebt einen phyſiognomiſchen wie einen religioͤſen Phariſaͤis- mus — und vermuthlich ſind beyde im Grunde Eins. Laßt michs oft wiederholen: Reinige das Jnnwendige — ſo iſt das Aeußere alles rein. 9. Was vor den Menſchen hoch iſt, das iſt vor Gott ein Greuel. Luc. XVI. 15. So viele Geſtalten ſind geweißten Graͤbern gleich. Man ſieht die Todtengebeine nicht — Jhr ſcheint auswendig vor den Menſchen gerecht; aber innwendig ſeyd ihr voll 10. Wahrlich ich ſage euch: es werden den Menſchenkindern alle Suͤnden und Laͤ- Wer einen Menſchen mißkennt, ſeines Angeſichtes Unſchuld nicht fuͤhlt; nicht fuͤhlt ſeine Menſchen- C c 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0235" n="205"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Schriftſtellen.</hi></hi></fw><lb/> ſchen laſſen; Wunden, die ſich heilen laſſen; auch nicht einmal unaustilgbare Narben — verunrei-<lb/> nigen dem Auge des Phyſiognomen ein Geſicht. So wie keine Schminke es ihm verſchoͤnert —<lb/> und <hi rendition="#fr">ob du dich gleich mit Nitro wuͤſcheſt, und mit Borith wohlriechend machteſt,</hi> waͤreſt<lb/> du doch in ſeinen Augen ein Greuel — wenn aus dem Herzen in die Zuͤge und Mienen <hi rendition="#fr">treten boͤſe<lb/> Gedanken, Hurerey, Ehebruch, Unkeuſchheit, Neid, Bosheit, Schalkheit, Verlaͤum-<lb/> dung, Bitterkeit, Todtſchlag.</hi> Es giebt einen phyſiognomiſchen wie einen religioͤſen Phariſaͤis-<lb/> mus — und vermuthlich ſind beyde im Grunde Eins. Laßt michs oft wiederholen: <hi rendition="#fr">Reinige das<lb/> Jnnwendige — ſo iſt das Aeußere alles rein.</hi></p> </div><lb/> <div n="5"> <head>9.</head><lb/> <p><hi rendition="#fr">Was vor den Menſchen hoch iſt, das iſt vor Gott ein Greuel.</hi> Luc. <hi rendition="#aq">XVI.</hi> 15.</p><lb/> <p>So viele Geſtalten ſind geweißten Graͤbern gleich. Man ſieht die Todtengebeine nicht —<lb/> aber ihr Geruch dringt durch alle Mauren, Knochen und Muskeln durch. Es giebt angebetete<lb/> Schoͤnheiten — der Phyſiognomiſt wendet ſich, und zittert, weint, oder ergrimmt.</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Jhr ſcheint auswendig vor den Menſchen gerecht; aber innwendig ſeyd ihr voll<lb/> Gleißnerey und Ungerechtigkeit.</hi> Matth. <hi rendition="#aq">XXIII.</hi> 28. <hi rendition="#fr">Jhr Thoren, der das Auswendige<lb/> gemacht, hat er nicht auch das Jnnwendige gemacht?</hi> Luc. <hi rendition="#aq">XI.</hi> 40. Und umgekehrt: der<lb/> das Jnnwendige ſchuf — ſchuf auch das Auswendige? Das Jnnwendige iſt aber unmittelbarer ſein<lb/> Werk, als das Auswendige. Weſſen Jnnwendiges rein iſt, in deſſen Auswendigem leſen Engel<lb/> wenigſtens — Himmel und Himmelswuͤrde. <hi rendition="#fr">Was drinnen iſt, gebt zu Allmoſen, ſo iſt euch<lb/> alles rein.</hi> — Jſt innwendig reine Liebe — dein Aeußerliches wird auch rein ſeyn.</p> </div><lb/> <div n="5"> <head>10.</head><lb/> <p><hi rendition="#fr">Wahrlich ich ſage euch: es werden den Menſchenkindern alle Suͤnden und Laͤ-<lb/> ſterungen, womit ſie den Menſchenſohn laͤſtern, vergeben werden; wer aber wider den<lb/> heiligen Geiſt laͤſtern wird, der hat keine Verzeihung in die Ewigkeit, ſondern er iſt des<lb/> ewigen Gerichts ſchuldig. — Denn ſie ſagten — er hat einen unreinen Geiſt.</hi> Marc. <hi rendition="#aq">III.</hi><lb/> 28-30.</p><lb/> <p>Wer einen Menſchen mißkennt, ſeines Angeſichtes Unſchuld nicht fuͤhlt; nicht fuͤhlt ſeine<lb/> Guͤte, Treue, Huͤlfsbegierde, Verſoͤhnlichkeit — verzeihlicher Fehler! der Fehler derer, die den<lb/> <fw place="bottom" type="sig">C c 3</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">Menſchen-</hi></fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [205/0235]
Schriftſtellen.
ſchen laſſen; Wunden, die ſich heilen laſſen; auch nicht einmal unaustilgbare Narben — verunrei-
nigen dem Auge des Phyſiognomen ein Geſicht. So wie keine Schminke es ihm verſchoͤnert —
und ob du dich gleich mit Nitro wuͤſcheſt, und mit Borith wohlriechend machteſt, waͤreſt
du doch in ſeinen Augen ein Greuel — wenn aus dem Herzen in die Zuͤge und Mienen treten boͤſe
Gedanken, Hurerey, Ehebruch, Unkeuſchheit, Neid, Bosheit, Schalkheit, Verlaͤum-
dung, Bitterkeit, Todtſchlag. Es giebt einen phyſiognomiſchen wie einen religioͤſen Phariſaͤis-
mus — und vermuthlich ſind beyde im Grunde Eins. Laßt michs oft wiederholen: Reinige das
Jnnwendige — ſo iſt das Aeußere alles rein.
9.
Was vor den Menſchen hoch iſt, das iſt vor Gott ein Greuel. Luc. XVI. 15.
So viele Geſtalten ſind geweißten Graͤbern gleich. Man ſieht die Todtengebeine nicht —
aber ihr Geruch dringt durch alle Mauren, Knochen und Muskeln durch. Es giebt angebetete
Schoͤnheiten — der Phyſiognomiſt wendet ſich, und zittert, weint, oder ergrimmt.
Jhr ſcheint auswendig vor den Menſchen gerecht; aber innwendig ſeyd ihr voll
Gleißnerey und Ungerechtigkeit. Matth. XXIII. 28. Jhr Thoren, der das Auswendige
gemacht, hat er nicht auch das Jnnwendige gemacht? Luc. XI. 40. Und umgekehrt: der
das Jnnwendige ſchuf — ſchuf auch das Auswendige? Das Jnnwendige iſt aber unmittelbarer ſein
Werk, als das Auswendige. Weſſen Jnnwendiges rein iſt, in deſſen Auswendigem leſen Engel
wenigſtens — Himmel und Himmelswuͤrde. Was drinnen iſt, gebt zu Allmoſen, ſo iſt euch
alles rein. — Jſt innwendig reine Liebe — dein Aeußerliches wird auch rein ſeyn.
10.
Wahrlich ich ſage euch: es werden den Menſchenkindern alle Suͤnden und Laͤ-
ſterungen, womit ſie den Menſchenſohn laͤſtern, vergeben werden; wer aber wider den
heiligen Geiſt laͤſtern wird, der hat keine Verzeihung in die Ewigkeit, ſondern er iſt des
ewigen Gerichts ſchuldig. — Denn ſie ſagten — er hat einen unreinen Geiſt. Marc. III.
28-30.
Wer einen Menſchen mißkennt, ſeines Angeſichtes Unſchuld nicht fuͤhlt; nicht fuͤhlt ſeine
Guͤte, Treue, Huͤlfsbegierde, Verſoͤhnlichkeit — verzeihlicher Fehler! der Fehler derer, die den
Menſchen-
C c 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |