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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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III. Abschnitt. I. Fragment.
Proportion der Theile, die sogleich auffällt, und nicht mühsam gesucht werden darf. Diese
Proportion zeigt Grundruhe, Grundstärke -- -- Sodann -- Umrisse aller Theile, die we-
der geradlinigt
noch zirkelbogig sind; gerade scheinen und sich dennoch wölben -- bogig scheinen
und dennoch der geraden Linie nahe kommen. Drittens -- Harmonie, unangestrengter Jnein-
anderfluß aller Umrisse und aller Bewegungen.

6.

Eine so schöne Seele, wie Raphaels war, in einem so schönen Körper wurde erfordert, den wahren
Charakter der Alten in neuern Zeiten zuerst zu empfinden und zu entdecken.

7.

Ein schönes Gesicht gefällt; aber es wird mehr reizen, wenn es durch eine gewisse überdenkende Miene
etwas ernsthaftes erhält. Das Alterthum selbst scheint also geurtheilt zu haben; ihre Künstler haben diese Mie-
ne in alle Köpfe des Antinous gelegt; die mit den vordern Locken bedeckte Stirn desselben giebt ihm dieselbe
nicht. Man weiß ferner, daß dasjenige, was bey dem ersten Augenblicke gefällt, nach demselben vielmals
aufhöret zu gefallen; was der vorübergehende Blick hat sammeln können, zerstreuet ein aufmerksames Auge,
und die Schminke verschwindet. Alle Reizungen erhalten ihre Dauer durch Nachforschung und Ueberlegung,
und man sucht in das verborgene Gefällige tiefer einzudringen. Eine ernsthafte Schönheit wird uns niemals
völlig satt und zufrieden gehen lassen; man glaubt beständig neue Reizungen zu entdecken, und so sind Raphaels
und der alten Meister ihre Schönheiten beschaffen: Nicht spielend und liebreich -- aber wohlgebilder und erfül-
let mit einer wahrhaften und ursprünglichen Schönheit. -- Jch glaube, daß jedermann dieß unterschreiben
würde, wenn statt Reiz, Größe stünde. Reiz ist immer etwas liebreiches, spürbar anzie-
hendes.

8.
Von der Kunst der Griechen.

Raphael schreibt an seinen Freund, den berühmten Grafen Balthasar Castiglione, da er die Ga-
lathea
in der Farnesina mahlen sollte: Um eine Schöne zu wählen, müßte man schönere sehen, weil
aber schöne Weiber selten sind, bediene ich mich einer gewissen Jdee, die mir meine Einbildung giebt.

Die Jdee des Kopfes seiner Galathea aber ist gemein, und es finden sich an allen Orten schönere Weiber.
Guido schrieb an einen römischen Prälaten, da er seinen Erzengel Michael zu mahlen hatte: Jch hätte eine
Schönheit aus dem Paradiese gewünschet, für meine Figur, und dieselbe im Himmel zu sehen; aber
ich habe mich nicht so hoch erheben können, und vergebens habe ich dieselbe auf der Erde gesucht.
--

Gleichwohl

III. Abſchnitt. I. Fragment.
Proportion der Theile, die ſogleich auffaͤllt, und nicht muͤhſam geſucht werden darf. Dieſe
Proportion zeigt Grundruhe, Grundſtaͤrke — — Sodann — Umriſſe aller Theile, die we-
der geradlinigt
noch zirkelbogig ſind; gerade ſcheinen und ſich dennoch woͤlben — bogig ſcheinen
und dennoch der geraden Linie nahe kommen. Drittens — Harmonie, unangeſtrengter Jnein-
anderfluß aller Umriſſe und aller Bewegungen.

6.

Eine ſo ſchoͤne Seele, wie Raphaels war, in einem ſo ſchoͤnen Koͤrper wurde erfordert, den wahren
Charakter der Alten in neuern Zeiten zuerſt zu empfinden und zu entdecken.

7.

Ein ſchoͤnes Geſicht gefaͤllt; aber es wird mehr reizen, wenn es durch eine gewiſſe uͤberdenkende Miene
etwas ernſthaftes erhaͤlt. Das Alterthum ſelbſt ſcheint alſo geurtheilt zu haben; ihre Kuͤnſtler haben dieſe Mie-
ne in alle Koͤpfe des Antinous gelegt; die mit den vordern Locken bedeckte Stirn deſſelben giebt ihm dieſelbe
nicht. Man weiß ferner, daß dasjenige, was bey dem erſten Augenblicke gefaͤllt, nach demſelben vielmals
aufhoͤret zu gefallen; was der voruͤbergehende Blick hat ſammeln koͤnnen, zerſtreuet ein aufmerkſames Auge,
und die Schminke verſchwindet. Alle Reizungen erhalten ihre Dauer durch Nachforſchung und Ueberlegung,
und man ſucht in das verborgene Gefaͤllige tiefer einzudringen. Eine ernſthafte Schoͤnheit wird uns niemals
voͤllig ſatt und zufrieden gehen laſſen; man glaubt beſtaͤndig neue Reizungen zu entdecken, und ſo ſind Raphaels
und der alten Meiſter ihre Schoͤnheiten beſchaffen: Nicht ſpielend und liebreich — aber wohlgebilder und erfuͤl-
let mit einer wahrhaften und urſpruͤnglichen Schoͤnheit. — Jch glaube, daß jedermann dieß unterſchreiben
wuͤrde, wenn ſtatt Reiz, Groͤße ſtuͤnde. Reiz iſt immer etwas liebreiches, ſpuͤrbar anzie-
hendes.

8.
Von der Kunſt der Griechen.

Raphael ſchreibt an ſeinen Freund, den beruͤhmten Grafen Balthaſar Caſtiglione, da er die Ga-
lathea
in der Farneſina mahlen ſollte: Um eine Schoͤne zu waͤhlen, muͤßte man ſchoͤnere ſehen, weil
aber ſchoͤne Weiber ſelten ſind, bediene ich mich einer gewiſſen Jdee, die mir meine Einbildung giebt.

Die Jdee des Kopfes ſeiner Galathea aber iſt gemein, und es finden ſich an allen Orten ſchoͤnere Weiber.
Guido ſchrieb an einen roͤmiſchen Praͤlaten, da er ſeinen Erzengel Michael zu mahlen hatte: Jch haͤtte eine
Schoͤnheit aus dem Paradieſe gewuͤnſchet, fuͤr meine Figur, und dieſelbe im Himmel zu ſehen; aber
ich habe mich nicht ſo hoch erheben koͤnnen, und vergebens habe ich dieſelbe auf der Erde geſucht.

Gleichwohl
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[172/0202] III. Abſchnitt. I. Fragment. Proportion der Theile, die ſogleich auffaͤllt, und nicht muͤhſam geſucht werden darf. Dieſe Proportion zeigt Grundruhe, Grundſtaͤrke — — Sodann — Umriſſe aller Theile, die we- der geradlinigt noch zirkelbogig ſind; gerade ſcheinen und ſich dennoch woͤlben — bogig ſcheinen und dennoch der geraden Linie nahe kommen. Drittens — Harmonie, unangeſtrengter Jnein- anderfluß aller Umriſſe und aller Bewegungen. 6. Eine ſo ſchoͤne Seele, wie Raphaels war, in einem ſo ſchoͤnen Koͤrper wurde erfordert, den wahren Charakter der Alten in neuern Zeiten zuerſt zu empfinden und zu entdecken. 7. Ein ſchoͤnes Geſicht gefaͤllt; aber es wird mehr reizen, wenn es durch eine gewiſſe uͤberdenkende Miene etwas ernſthaftes erhaͤlt. Das Alterthum ſelbſt ſcheint alſo geurtheilt zu haben; ihre Kuͤnſtler haben dieſe Mie- ne in alle Koͤpfe des Antinous gelegt; die mit den vordern Locken bedeckte Stirn deſſelben giebt ihm dieſelbe nicht. Man weiß ferner, daß dasjenige, was bey dem erſten Augenblicke gefaͤllt, nach demſelben vielmals aufhoͤret zu gefallen; was der voruͤbergehende Blick hat ſammeln koͤnnen, zerſtreuet ein aufmerkſames Auge, und die Schminke verſchwindet. Alle Reizungen erhalten ihre Dauer durch Nachforſchung und Ueberlegung, und man ſucht in das verborgene Gefaͤllige tiefer einzudringen. Eine ernſthafte Schoͤnheit wird uns niemals voͤllig ſatt und zufrieden gehen laſſen; man glaubt beſtaͤndig neue Reizungen zu entdecken, und ſo ſind Raphaels und der alten Meiſter ihre Schoͤnheiten beſchaffen: Nicht ſpielend und liebreich — aber wohlgebilder und erfuͤl- let mit einer wahrhaften und urſpruͤnglichen Schoͤnheit. — Jch glaube, daß jedermann dieß unterſchreiben wuͤrde, wenn ſtatt Reiz, Groͤße ſtuͤnde. Reiz iſt immer etwas liebreiches, ſpuͤrbar anzie- hendes. 8. Von der Kunſt der Griechen. Raphael ſchreibt an ſeinen Freund, den beruͤhmten Grafen Balthaſar Caſtiglione, da er die Ga- lathea in der Farneſina mahlen ſollte: Um eine Schoͤne zu waͤhlen, muͤßte man ſchoͤnere ſehen, weil aber ſchoͤne Weiber ſelten ſind, bediene ich mich einer gewiſſen Jdee, die mir meine Einbildung giebt. Die Jdee des Kopfes ſeiner Galathea aber iſt gemein, und es finden ſich an allen Orten ſchoͤnere Weiber. Guido ſchrieb an einen roͤmiſchen Praͤlaten, da er ſeinen Erzengel Michael zu mahlen hatte: Jch haͤtte eine Schoͤnheit aus dem Paradieſe gewuͤnſchet, fuͤr meine Figur, und dieſelbe im Himmel zu ſehen; aber ich habe mich nicht ſo hoch erheben koͤnnen, und vergebens habe ich dieſelbe auf der Erde geſucht. — Gleichwohl

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/202>, abgerufen am 17.11.2024.