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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Stellen aus Winkelmanns Schriften.
sie sich der Perpendikularität nähert, desto mehr verliert sie den Charakter der Weisheit und Gra-
zie;
-- und desto mehr den Charakter der Würde und Größe; je schiefer sie zurücksinkt ... Je
gerader und perpendikulärer zugleich das Profil der Stirn und der Nase ist, desto mehr nähert sich
das Profil des obern Theiles vom Kopfe einem rechten Winkel -- vor welchem Schönheit und
Weisheit mit gleich schnellen Schritten fliehen. Jn den gewöhnlichen Copieen dieser alten berühm-
ten Schönheitslinien finde ich größtentheils einen Ausdruck drückender, wenn ich so sagen darf, un-
begeisterlicher Fadheit;
ich sage: in den Copieen, (zum Exempel in der Sophonisbe der An-
gelica Kaufmann,
) wo vermuthlich einerseits -- der Ueberwurf der Linie unter die Haare ver-
nachläßigt ist -- und nicht erreicht worden anderseits die unerreichbare Sanftheit der Beugung
der gerade scheinenden Linien. Mehr davon in den physiognomischen Linien.

3.

Also ist es die Venus gewesen, welche den Bernini Schönheiten in der Natur entdecken gelehret, die
er vorher allein in jener zu finden geglaubt hat, und die er ohne die Venus nicht würde in der Natur gesucht
haben. -- Alle Werke der Kunst sind, meines Bedünkens, das Medium, wodurch wir gemeiniglich
die Natur sehen. Naturbeobachter, Dichter- und Künstlergenies vorempfinden uns die Schönhei-
ten der Natur. Sie buchstabieren uns dieß Wort Gottes durch ihre obgleich unvollkommene Nach-
ahmungen vor, und wer dazu gebildet ist, der lernt es denn schnell selber lesen; daß es heißt -- "wir
"glauben nun nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben selber gesehen."
--
So hoffe ich, diese Fragmente seyen diesem und jenem wo nicht Medium, doch Veranlassung -- zu
sehen, was er ohne dieselben in der Natur, die eben so offen vor ihm lag, wie itzt, vielleicht nie ein-
gesehen hätte.

4.

Die Linie, welche das Völlige der Natur von dem Ueberflüßigen derselben scheidet, ist sehr klein. --
Unermeßbar allen Versuchen und Werkzeugen -- und dennoch allgewaltig wie alles -- Unerreich-
bare!

5.

Edle Einfalt! stille Größe! -- So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag
noch so wüten. -- Diese drückt sich auf dreyfache Weise aus; das heißt, drey Charaktere müssen in
Einem Gesichte in einander zusammenfließen, wenn es diesen Ausdruck haben soll -- Erstlich --

Pro-
Y 2

Stellen aus Winkelmanns Schriften.
ſie ſich der Perpendikularitaͤt naͤhert, deſto mehr verliert ſie den Charakter der Weisheit und Gra-
zie;
— und deſto mehr den Charakter der Wuͤrde und Groͤße; je ſchiefer ſie zuruͤckſinkt ... Je
gerader und perpendikulaͤrer zugleich das Profil der Stirn und der Naſe iſt, deſto mehr naͤhert ſich
das Profil des obern Theiles vom Kopfe einem rechten Winkel — vor welchem Schoͤnheit und
Weisheit mit gleich ſchnellen Schritten fliehen. Jn den gewoͤhnlichen Copieen dieſer alten beruͤhm-
ten Schoͤnheitslinien finde ich groͤßtentheils einen Ausdruck druͤckender, wenn ich ſo ſagen darf, un-
begeiſterlicher Fadheit;
ich ſage: in den Copieen, (zum Exempel in der Sophonisbe der An-
gelica Kaufmann,
) wo vermuthlich einerſeits — der Ueberwurf der Linie unter die Haare ver-
nachlaͤßigt iſt — und nicht erreicht worden anderſeits die unerreichbare Sanftheit der Beugung
der gerade ſcheinenden Linien. Mehr davon in den phyſiognomiſchen Linien.

3.

Alſo iſt es die Venus geweſen, welche den Bernini Schoͤnheiten in der Natur entdecken gelehret, die
er vorher allein in jener zu finden geglaubt hat, und die er ohne die Venus nicht wuͤrde in der Natur geſucht
haben. — Alle Werke der Kunſt ſind, meines Beduͤnkens, das Medium, wodurch wir gemeiniglich
die Natur ſehen. Naturbeobachter, Dichter- und Kuͤnſtlergenies vorempfinden uns die Schoͤnhei-
ten der Natur. Sie buchſtabieren uns dieß Wort Gottes durch ihre obgleich unvollkommene Nach-
ahmungen vor, und wer dazu gebildet iſt, der lernt es denn ſchnell ſelber leſen; daß es heißt — „wir
„glauben nun nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben ſelber geſehen.“

So hoffe ich, dieſe Fragmente ſeyen dieſem und jenem wo nicht Medium, doch Veranlaſſung — zu
ſehen, was er ohne dieſelben in der Natur, die eben ſo offen vor ihm lag, wie itzt, vielleicht nie ein-
geſehen haͤtte.

4.

Die Linie, welche das Voͤllige der Natur von dem Ueberfluͤßigen derſelben ſcheidet, iſt ſehr klein. —
Unermeßbar allen Verſuchen und Werkzeugen — und dennoch allgewaltig wie alles — Unerreich-
bare!

5.

Edle Einfalt! ſtille Groͤße! — So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberflaͤche mag
noch ſo wuͤten. — Dieſe druͤckt ſich auf dreyfache Weiſe aus; das heißt, drey Charaktere muͤſſen in
Einem Geſichte in einander zuſammenfließen, wenn es dieſen Ausdruck haben ſoll — Erſtlich

Pro-
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[171/0201] Stellen aus Winkelmanns Schriften. ſie ſich der Perpendikularitaͤt naͤhert, deſto mehr verliert ſie den Charakter der Weisheit und Gra- zie; — und deſto mehr den Charakter der Wuͤrde und Groͤße; je ſchiefer ſie zuruͤckſinkt ... Je gerader und perpendikulaͤrer zugleich das Profil der Stirn und der Naſe iſt, deſto mehr naͤhert ſich das Profil des obern Theiles vom Kopfe einem rechten Winkel — vor welchem Schoͤnheit und Weisheit mit gleich ſchnellen Schritten fliehen. Jn den gewoͤhnlichen Copieen dieſer alten beruͤhm- ten Schoͤnheitslinien finde ich groͤßtentheils einen Ausdruck druͤckender, wenn ich ſo ſagen darf, un- begeiſterlicher Fadheit; ich ſage: in den Copieen, (zum Exempel in der Sophonisbe der An- gelica Kaufmann,) wo vermuthlich einerſeits — der Ueberwurf der Linie unter die Haare ver- nachlaͤßigt iſt — und nicht erreicht worden anderſeits die unerreichbare Sanftheit der Beugung der gerade ſcheinenden Linien. Mehr davon in den phyſiognomiſchen Linien. 3. Alſo iſt es die Venus geweſen, welche den Bernini Schoͤnheiten in der Natur entdecken gelehret, die er vorher allein in jener zu finden geglaubt hat, und die er ohne die Venus nicht wuͤrde in der Natur geſucht haben. — Alle Werke der Kunſt ſind, meines Beduͤnkens, das Medium, wodurch wir gemeiniglich die Natur ſehen. Naturbeobachter, Dichter- und Kuͤnſtlergenies vorempfinden uns die Schoͤnhei- ten der Natur. Sie buchſtabieren uns dieß Wort Gottes durch ihre obgleich unvollkommene Nach- ahmungen vor, und wer dazu gebildet iſt, der lernt es denn ſchnell ſelber leſen; daß es heißt — „wir „glauben nun nicht mehr um deiner Rede willen; denn wir haben ſelber geſehen.“ — So hoffe ich, dieſe Fragmente ſeyen dieſem und jenem wo nicht Medium, doch Veranlaſſung — zu ſehen, was er ohne dieſelben in der Natur, die eben ſo offen vor ihm lag, wie itzt, vielleicht nie ein- geſehen haͤtte. 4. Die Linie, welche das Voͤllige der Natur von dem Ueberfluͤßigen derſelben ſcheidet, iſt ſehr klein. — Unermeßbar allen Verſuchen und Werkzeugen — und dennoch allgewaltig wie alles — Unerreich- bare! 5. Edle Einfalt! ſtille Groͤße! — So wie die Tiefe des Meeres allezeit ruhig bleibt, die Oberflaͤche mag noch ſo wuͤten. — Dieſe druͤckt ſich auf dreyfache Weiſe aus; das heißt, drey Charaktere muͤſſen in Einem Geſichte in einander zuſammenfließen, wenn es dieſen Ausdruck haben ſoll — Erſtlich — Pro- Y 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/201>, abgerufen am 17.11.2024.