Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.II. Abschnitt. III. Fragment. Gifte einer Leidenschaft angefressen -- abscheulich handelt, und Thaten thut, die Greuel sind inder Menschen Augen, die das Schwert des Rächers strafen muß -- und die in Gottes Augen viel- leicht unschuldig, vielleicht Tugend sind. -- Wer die Cenci sah -- war durch ihre Schönheit be- zaubert! Jhr eigener Vater war's, und sie stieß dem Verfolger den Dolch ins Herz -- wer will da von Laster sprechen, als der politische Richter? -- Der muß sie tödten -- indem er sie vielleicht anbetet! Aber wer sie auch nicht anbetet, muß doch fühlen, daß sie, wenn sie auch nur so gut aus- sah, als sie hier erscheint, nicht innerlich lasterhaft war -- zu rein und zu schwach war zu jedem Plane der Bosheit; obgleich nicht zu rein und zu schwach zu einer Greuelthat schamhafter Schwär- merey! -- Was kann uns nun vor ungerechten, lieblos verdammenden Urtheilen dieser That ver- wahren, als unverdorbener physiognomischer Sinn? III. Aber auch die Verstandeskräfte des Menschen kündigen sich dem menschlichen IV. Und eben so gewiß, obgleich freylich noch weniger entwickelt, ist der Sinn für die Geistes- ist
II. Abſchnitt. III. Fragment. Gifte einer Leidenſchaft angefreſſen — abſcheulich handelt, und Thaten thut, die Greuel ſind inder Menſchen Augen, die das Schwert des Raͤchers ſtrafen muß — und die in Gottes Augen viel- leicht unſchuldig, vielleicht Tugend ſind. — Wer die Cenci ſah — war durch ihre Schoͤnheit be- zaubert! Jhr eigener Vater war’s, und ſie ſtieß dem Verfolger den Dolch ins Herz — wer will da von Laſter ſprechen, als der politiſche Richter? — Der muß ſie toͤdten — indem er ſie vielleicht anbetet! Aber wer ſie auch nicht anbetet, muß doch fuͤhlen, daß ſie, wenn ſie auch nur ſo gut aus- ſah, als ſie hier erſcheint, nicht innerlich laſterhaft war — zu rein und zu ſchwach war zu jedem Plane der Bosheit; obgleich nicht zu rein und zu ſchwach zu einer Greuelthat ſchamhafter Schwaͤr- merey! — Was kann uns nun vor ungerechten, lieblos verdammenden Urtheilen dieſer That ver- wahren, als unverdorbener phyſiognomiſcher Sinn? III. Aber auch die Verſtandeskraͤfte des Menſchen kuͤndigen ſich dem menſchlichen IV. Und eben ſo gewiß, obgleich freylich noch weniger entwickelt, iſt der Sinn fuͤr die Geiſtes- iſt
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II. Abſchnitt. III. Fragment.
Gifte einer Leidenſchaft angefreſſen — abſcheulich handelt, und Thaten thut, die Greuel ſind in
der Menſchen Augen, die das Schwert des Raͤchers ſtrafen muß — und die in Gottes Augen viel-
leicht unſchuldig, vielleicht Tugend ſind. — Wer die Cenci ſah — war durch ihre Schoͤnheit be-
zaubert! Jhr eigener Vater war’s, und ſie ſtieß dem Verfolger den Dolch ins Herz — wer will da
von Laſter ſprechen, als der politiſche Richter? — Der muß ſie toͤdten — indem er ſie vielleicht
anbetet! Aber wer ſie auch nicht anbetet, muß doch fuͤhlen, daß ſie, wenn ſie auch nur ſo gut aus-
ſah, als ſie hier erſcheint, nicht innerlich laſterhaft war — zu rein und zu ſchwach war zu jedem
Plane der Bosheit; obgleich nicht zu rein und zu ſchwach zu einer Greuelthat ſchamhafter Schwaͤr-
merey! — Was kann uns nun vor ungerechten, lieblos verdammenden Urtheilen dieſer That ver-
wahren, als unverdorbener phyſiognomiſcher Sinn?
III.
Aber auch die Verſtandeskraͤfte des Menſchen kuͤndigen ſich dem menſchlichen
Auge, dem allgemeinen Sinne der Menſchen durch ihre Charaktere unmittelbar und
ohne alles Raͤſonniren und Abſtrahiren an. Gewiß, Verſtandeskraͤfte, oder Dummheit in
Bewegung, in der Aktion. Eine ſehr denkende Miene — eine ſehr aufmerkſame — iſt ſicherlich al-
len Menſchenaugen auf den erſten Blick ſo erkennbar, als eine ſehr undenkende, ſehr unaufmerkſa-
me. Man fuͤhre dem unerfahrenſten Kinde, das nur ſo viel Verſtand hat zu unterſcheiden, was
weiſe und dumm iſt, einem Kinde von ſechs oder acht Jahren ein ſehr weiſes oder ein ſehr dummes
Geſicht in einer denkenden und undenkenden Stellung, wie es gewiß noch keine geſehen haben kann,
vor, oder man zeichne ihm aus der Jmagination ein erzdummes und ein weiſes Geſicht in einer Ak-
tion — und frage: welches iſt weiſe? welches dumm? Wenn es ſeiner Empfindung folgt — wird es
ſo richtig urtheilen, als wenn ihr ihm eine ſehr moraliſch gute, und eine ſehr moraliſch ſchlimme
Handlung anſchaulich genug zur Beurtheilung vorleget.
IV.
Und eben ſo gewiß, obgleich freylich noch weniger entwickelt, iſt der Sinn fuͤr die Geiſtes-
kraͤfte in Ruhe; ſobald es gewiß iſt, daß wenigſtens gewiſſe extreme Linien allen Menſchenau-
gen als weiſe oder dumm auf den erſten Blick erkennbar ſind, ſo iſt die Allgemeinheit auch dieſes
Sinnes erwieſen. Denn wenn er nicht da waͤre, ſo koͤnnte er in keinem Falle allgemein ſeyn. Nun
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