Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.II. Abschnitt. III. Fragment. auch ohne alle Namen eben so verstanden oder vielmehr empfunden werden, wie angenehmer Kitzelund Peitschenschläge, unmittelbar, ohne Räsonnement, und ohne Verstand empfunden werden. Hierüber also weiter kein Wort. Wer hieran zweifelt, zweifelt am Daseyn menschlicher Gesichter, und an seinem eigenen Daseyn. II. Es giebt aber auch einen allgemeinen pathognomischen Sinn für den leiden- schaftlichen Charakter überhaupt. So wie ein zürnendes Gesicht von einem gesunden und ordentlich organisirten Menschen Auch wird, so viel ich weiß, die Physiognomik der leidenschaftlichen Charaktere, oder die Warum aber überhaupt die Pathognomik mehr erkannt und anerkannt werde, ist sehr be- talkraft
II. Abſchnitt. III. Fragment. auch ohne alle Namen eben ſo verſtanden oder vielmehr empfunden werden, wie angenehmer Kitzelund Peitſchenſchlaͤge, unmittelbar, ohne Raͤſonnement, und ohne Verſtand empfunden werden. Hieruͤber alſo weiter kein Wort. Wer hieran zweifelt, zweifelt am Daſeyn menſchlicher Geſichter, und an ſeinem eigenen Daſeyn. II. Es giebt aber auch einen allgemeinen pathognomiſchen Sinn fuͤr den leiden- ſchaftlichen Charakter uͤberhaupt. So wie ein zuͤrnendes Geſicht von einem geſunden und ordentlich organiſirten Menſchen Auch wird, ſo viel ich weiß, die Phyſiognomik der leidenſchaftlichen Charaktere, oder die Warum aber uͤberhaupt die Pathognomik mehr erkannt und anerkannt werde, iſt ſehr be- talkraft
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II. Abſchnitt. III. Fragment.
auch ohne alle Namen eben ſo verſtanden oder vielmehr empfunden werden, wie angenehmer Kitzel
und Peitſchenſchlaͤge, unmittelbar, ohne Raͤſonnement, und ohne Verſtand empfunden werden.
Hieruͤber alſo weiter kein Wort. Wer hieran zweifelt, zweifelt am Daſeyn menſchlicher Geſichter,
und an ſeinem eigenen Daſeyn.
II.
Es giebt aber auch einen allgemeinen pathognomiſchen Sinn fuͤr den leiden-
ſchaftlichen Charakter uͤberhaupt.
So wie ein zuͤrnendes Geſicht von einem geſunden und ordentlich organiſirten Menſchen
ſchwerlich nicht verſtanden werden, und denſelben Eindruck, als wenn es ſanft waͤre, machen wird,
ſo hat das zornmuͤthige ebenfalls ſeine allem Raͤſonnement vorgehende Erkennbarkeit. So das
ſanftmuͤthige. So das ſtolze. So das grauſame. So das edle, offne, heitere, gefaͤllige. Eine Armee
in Schlachtordnung vor dem Angriffe — iſt dieſelbe Armee im Sturme des Angriffs; iſt dem Auge
des Feindes auf den erſten Blick furchtbar — oder nicht; nachdem ſie ſtark oder ſchwach, ſo oder ſo
geſtellt, ſo oder ſo bewaffnet iſt. Der Angriff einer Armee iſt wie die Armee, das heißt, hat ein be-
ſtimmtes Verhaͤltniß zu der Groͤße und Staͤrke und Fertigkeit — kurz, zu der Natur der Armee.
So iſt der Zorn eines Zuͤrnenden wie ſeine Zornmuͤthigkeit. Zornmuͤthigkeit iſt ſtehender
Zorn; feiner freylich gezeichnet; uncolorirt, unſchattirt. So wie das natuͤrlich ſanftmuͤthige Ge-
ſicht ſtehender Ausdruck ſanftmuͤthiger Bewegung iſt. Jſt alſo Zorn und Sanftmuth z. E. in Be-
wegung allgemein erkennbar und empfindbar — ſind wir uͤberhaupt ſo gebaut, daß das eine uns
druͤckt und reizt, das andre uns wohl macht und anzieht, ohne Raͤſonnement, ohne Ruͤckſicht auf
Nutzen oder Schaden — ſo ſollten, daͤucht mir, auch die, obgleich leiſern, Zuͤge des ſtehenden Zorns
und der ſtehenden Sanftmuth durchs bloße Gefuͤhl erkennbar ſeyn.
Auch wird, ſo viel ich weiß, die Phyſiognomik der leidenſchaftlichen Charaktere, oder die
Pathognomik im weiteſten Sinne, noch ſo ziemlich allgemein zugeſtanden.
Warum aber uͤberhaupt die Pathognomik mehr erkannt und anerkannt werde, iſt ſehr be-
greiflich, weil die Bewegung und Beweglichkeit, mithin das Leidenſchaftliche eines Geſichtes, die
unmittelbarſte, treffendſte Beziehung auf uns hat; weil ſie entweder das Verhaͤltniß des Moments
ausdruͤckt, in welchem eine Perſon mit uns ſteht; weil ſie gewiſſermaßen ein Brennpunkt der To-
talkraft
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