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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778.

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Einige physiognomische Gedanken mit Anmerkungen.
"sondern auch auf das, was er in dem und dem Falle sehen würde." -- Vortrefflich -- und ich thue
hinzu -- wie ein Arzt entscheiden, ahnden, vormerken kann, welche Farben, Mienen, Verzerrungen
aus einer gewissen Krankheit, von deren Daseyn er nun einmal gewiß ist, entstehen müssen -- so
weiß der ächte Physiognomiker, was jede Muskelnart und jeder Stirnbau für Mienen, für Aus-
drücke, für Spielungen zuläßt, nicht zuläßt, schwer oder leicht macht; und wie jedes gegebene Ge-
sicht bey jedem Vorfalle sich falten oder nicht falten kann und wird.

9.

"Wenn ein Anfänger im Zeichnen ein Gesicht zeichnet; so wird man finden, daß dieß or-
"dentlicher Weise ein dummes Gesicht wird; nie ein hämisches, satyrisches, oder dergleichen. (Wich-
tige Bemerkung!) "Sollte sich hieraus nicht das Wesen eines dummen Gesichtes abstrahiren las-
"sen? O ja -- denn woher rührt die Erscheinung? Der Anfänger weiß keine Beziehungen hinein-
"zubringen; seine Striche fallen ohne Verbindung hin. Was ist also ein dummes Gesicht? Ein
"solches, (unter andern) dessen Theile mangelhaft verbunden, dessen Muskeln mangelhaft gebildet,
"und geordnet sind. Das Geschäffte des Denkens und Empfindens, wozu sie unentbehrliche Werk-
"zeuge sind, wird auch also nur schläfrig von statten gehen."

10.

"Außer den Muskeln giebt es noch eine andere Substanz am menschlichen Körper, die den
"Physiognomiker beschäfftigt, der Schädel nämlich, oder überhaupt die Knochen. -- Auch von die-
"sen hängt die Lage der Muskeln ab. -- Würde wohl der Stirnmuskel die zum Denken vortheil-
"hafte Lage haben, wenn das Stirnbein, über das er ausgespannt ist, nicht gerade die Fläche und
"Wölbung hätte? Der Schädel bestimmt also durch seine Figur -- Figur und Lage der Muskeln,
"und diese bestimmt unmittelbar die Denk- und Empfindungsart."

11.

"So sieht's auch mit den Haaren aus, aus deren Parthien und derselben Lage unter einan-
"der geschlossen wird. Woher hat der Mohr seine Wollenhaare? Von der Dicke seiner Haut, in
"der sich bey der unaufhörlichen Ausdünstung immer mehr Partikeln ansetzen, die sie undurchsichtig
"machen und schwärzen. Es fällt also dem Haare schwer, durchzudringen; kaum ist es etwas vorge-
"drungen; so krümmt's sich schon und hört auf zu wachsen. Das Haar richtet sich nach der Form

des

Einige phyſiognomiſche Gedanken mit Anmerkungen.
„ſondern auch auf das, was er in dem und dem Falle ſehen wuͤrde.“ — Vortrefflich — und ich thue
hinzu — wie ein Arzt entſcheiden, ahnden, vormerken kann, welche Farben, Mienen, Verzerrungen
aus einer gewiſſen Krankheit, von deren Daſeyn er nun einmal gewiß iſt, entſtehen muͤſſen — ſo
weiß der aͤchte Phyſiognomiker, was jede Muskelnart und jeder Stirnbau fuͤr Mienen, fuͤr Aus-
druͤcke, fuͤr Spielungen zulaͤßt, nicht zulaͤßt, ſchwer oder leicht macht; und wie jedes gegebene Ge-
ſicht bey jedem Vorfalle ſich falten oder nicht falten kann und wird.

9.

„Wenn ein Anfaͤnger im Zeichnen ein Geſicht zeichnet; ſo wird man finden, daß dieß or-
„dentlicher Weiſe ein dummes Geſicht wird; nie ein haͤmiſches, ſatyriſches, oder dergleichen. (Wich-
tige Bemerkung!) „Sollte ſich hieraus nicht das Weſen eines dummen Geſichtes abſtrahiren laſ-
„ſen? O ja — denn woher ruͤhrt die Erſcheinung? Der Anfaͤnger weiß keine Beziehungen hinein-
„zubringen; ſeine Striche fallen ohne Verbindung hin. Was iſt alſo ein dummes Geſicht? Ein
„ſolches, (unter andern) deſſen Theile mangelhaft verbunden, deſſen Muskeln mangelhaft gebildet,
„und geordnet ſind. Das Geſchaͤffte des Denkens und Empfindens, wozu ſie unentbehrliche Werk-
„zeuge ſind, wird auch alſo nur ſchlaͤfrig von ſtatten gehen.“

10.

„Außer den Muskeln giebt es noch eine andere Subſtanz am menſchlichen Koͤrper, die den
„Phyſiognomiker beſchaͤfftigt, der Schaͤdel naͤmlich, oder uͤberhaupt die Knochen. — Auch von die-
„ſen haͤngt die Lage der Muskeln ab. — Wuͤrde wohl der Stirnmuskel die zum Denken vortheil-
„hafte Lage haben, wenn das Stirnbein, uͤber das er ausgeſpannt iſt, nicht gerade die Flaͤche und
„Woͤlbung haͤtte? Der Schaͤdel beſtimmt alſo durch ſeine Figur — Figur und Lage der Muskeln,
„und dieſe beſtimmt unmittelbar die Denk- und Empfindungsart.“

11.

„So ſieht’s auch mit den Haaren aus, aus deren Parthien und derſelben Lage unter einan-
„der geſchloſſen wird. Woher hat der Mohr ſeine Wollenhaare? Von der Dicke ſeiner Haut, in
„der ſich bey der unaufhoͤrlichen Ausduͤnſtung immer mehr Partikeln anſetzen, die ſie undurchſichtig
„machen und ſchwaͤrzen. Es faͤllt alſo dem Haare ſchwer, durchzudringen; kaum iſt es etwas vorge-
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[111/0139] Einige phyſiognomiſche Gedanken mit Anmerkungen. „ſondern auch auf das, was er in dem und dem Falle ſehen wuͤrde.“ — Vortrefflich — und ich thue hinzu — wie ein Arzt entſcheiden, ahnden, vormerken kann, welche Farben, Mienen, Verzerrungen aus einer gewiſſen Krankheit, von deren Daſeyn er nun einmal gewiß iſt, entſtehen muͤſſen — ſo weiß der aͤchte Phyſiognomiker, was jede Muskelnart und jeder Stirnbau fuͤr Mienen, fuͤr Aus- druͤcke, fuͤr Spielungen zulaͤßt, nicht zulaͤßt, ſchwer oder leicht macht; und wie jedes gegebene Ge- ſicht bey jedem Vorfalle ſich falten oder nicht falten kann und wird. 9. „Wenn ein Anfaͤnger im Zeichnen ein Geſicht zeichnet; ſo wird man finden, daß dieß or- „dentlicher Weiſe ein dummes Geſicht wird; nie ein haͤmiſches, ſatyriſches, oder dergleichen. (Wich- tige Bemerkung!) „Sollte ſich hieraus nicht das Weſen eines dummen Geſichtes abſtrahiren laſ- „ſen? O ja — denn woher ruͤhrt die Erſcheinung? Der Anfaͤnger weiß keine Beziehungen hinein- „zubringen; ſeine Striche fallen ohne Verbindung hin. Was iſt alſo ein dummes Geſicht? Ein „ſolches, (unter andern) deſſen Theile mangelhaft verbunden, deſſen Muskeln mangelhaft gebildet, „und geordnet ſind. Das Geſchaͤffte des Denkens und Empfindens, wozu ſie unentbehrliche Werk- „zeuge ſind, wird auch alſo nur ſchlaͤfrig von ſtatten gehen.“ 10. „Außer den Muskeln giebt es noch eine andere Subſtanz am menſchlichen Koͤrper, die den „Phyſiognomiker beſchaͤfftigt, der Schaͤdel naͤmlich, oder uͤberhaupt die Knochen. — Auch von die- „ſen haͤngt die Lage der Muskeln ab. — Wuͤrde wohl der Stirnmuskel die zum Denken vortheil- „hafte Lage haben, wenn das Stirnbein, uͤber das er ausgeſpannt iſt, nicht gerade die Flaͤche und „Woͤlbung haͤtte? Der Schaͤdel beſtimmt alſo durch ſeine Figur — Figur und Lage der Muskeln, „und dieſe beſtimmt unmittelbar die Denk- und Empfindungsart.“ 11. „So ſieht’s auch mit den Haaren aus, aus deren Parthien und derſelben Lage unter einan- „der geſchloſſen wird. Woher hat der Mohr ſeine Wollenhaare? Von der Dicke ſeiner Haut, in „der ſich bey der unaufhoͤrlichen Ausduͤnſtung immer mehr Partikeln anſetzen, die ſie undurchſichtig „machen und ſchwaͤrzen. Es faͤllt alſo dem Haare ſchwer, durchzudringen; kaum iſt es etwas vorge- „drungen; ſo kruͤmmt’s ſich ſchon und hoͤrt auf zu wachſen. Das Haar richtet ſich nach der Form des

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 4. Leipzig u. a., 1778, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente04_1778/139>, abgerufen am 17.11.2024.