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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Revision des ersten Bandes.
Mensch, und wenn alle Wolfe und Leibnitze, alle Cartesiusse und Bonnets, alle Euler und
Neutone in ihm vereinigt wären -- niemals wird entscheiden können -- was innere Geistesna-
tur
-- innere Körpernatur ist -- Und so lange sie davon nichts ganz gewisses wissen, davon keine
anschauende Erkenntniß haben -- halt' ich's für Vermessenheit und Träumerey, über die Natur
der Seele und des Körpers, ihre Vereinigung und Jneinanderwürkung, metaphysische Syste-
me
zu bauen. --

Auch scheu ich mich nicht zu sagen -- daß, wenn mir der Materialismus an sich vernünf-
tiger vorkäme, als irgend ein ander System, ich Materialist seyn und es zu seyn bekennen würde.
Was ist, oder mir als seyend vorkömmt; was also für mich -- ist -- darf als seyend angezeigt
und bezeugt werden -- in so fern ein Philosoph mit Philosophen spricht.

Endlich füg' ich auch noch dieß bey -- daß, beym Glauben an eine göttliche Offenba-
rung -- deren Hauptinnhalt ein lebendiger Gott ist, der alle Dinge durch Jesum Christum
lebendig macht,
ein denkender Mensch vom Materialismus keinen Nachtheil hat. Warum?
weil er, ohne wissen zu dürfen, wie? und wie möglich? sich an Gottes simple Offenbarungen hält;
keiner einfachen Substanzen zu seinem Glauben an Unsterblichkeit bedarf -- und sich vor einem
materialischen Wesen nicht fürchtet -- wenn ein allbelebender Gott ist -- der in einem einzigen Au-
genblick eine lebendige Materie -- darstellen konnte. Was Gott -- (das muß der Philosoph der
Natur schon sagen) was Gott einen Augenblick kann, kann er zween; und was er zween kann,
vier -- u. s. f.

Schon der Philosoph, der lebt, und wenn der Materialismus wahr wäre, ja um nichts
minder leben und denken würde -- schon der Philosoph sollt' um des Materialismus willen -- an
der Möglichkeit des Lebens, der Lebensfortdauer -- der Auferstehung, nicht zweifeln. Aber, so
ist's nun einmal -- Es ist selten ein Theologe seiner Theologie, ein Philosoph seiner Philosophie
treu -- Alle nur bis auf einen gewissen Punkt -- und drüber hinaus sind alle gleichrichtige Conse-
quenzen -- Umwahrheit!

Genug; ich bin kein Materialist, ich unterscheide im Menschen ein unsichtbares, beleben-
des, sich selbst im Körper als Herr des Körpers empfindendes Wesen. -- Obgleich ich dieses We-
sen für schlechterdings unerforschlich, alle Bemühungen, das Wesen dieses lebendigmachenden

Geistes
Phys. Fragm. III Versuch. B

Reviſion des erſten Bandes.
Menſch, und wenn alle Wolfe und Leibnitze, alle Carteſiuſſe und Bonnets, alle Euler und
Neutone in ihm vereinigt waͤren — niemals wird entſcheiden koͤnnen — was innere Geiſtesna-
tur
— innere Koͤrpernatur iſt — Und ſo lange ſie davon nichts ganz gewiſſes wiſſen, davon keine
anſchauende Erkenntniß haben — halt’ ich’s fuͤr Vermeſſenheit und Traͤumerey, uͤber die Natur
der Seele und des Koͤrpers, ihre Vereinigung und Jneinanderwuͤrkung, metaphyſiſche Syſte-
me
zu bauen. —

Auch ſcheu ich mich nicht zu ſagen — daß, wenn mir der Materialismus an ſich vernuͤnf-
tiger vorkaͤme, als irgend ein ander Syſtem, ich Materialiſt ſeyn und es zu ſeyn bekennen wuͤrde.
Was iſt, oder mir als ſeyend vorkoͤmmt; was alſo fuͤr mich — iſt — darf als ſeyend angezeigt
und bezeugt werden — in ſo fern ein Philoſoph mit Philoſophen ſpricht.

Endlich fuͤg’ ich auch noch dieß bey — daß, beym Glauben an eine goͤttliche Offenba-
rung — deren Hauptinnhalt ein lebendiger Gott iſt, der alle Dinge durch Jeſum Chriſtum
lebendig macht,
ein denkender Menſch vom Materialismus keinen Nachtheil hat. Warum?
weil er, ohne wiſſen zu duͤrfen, wie? und wie moͤglich? ſich an Gottes ſimple Offenbarungen haͤlt;
keiner einfachen Subſtanzen zu ſeinem Glauben an Unſterblichkeit bedarf — und ſich vor einem
materialiſchen Weſen nicht fuͤrchtet — wenn ein allbelebender Gott iſt — der in einem einzigen Au-
genblick eine lebendige Materie — darſtellen konnte. Was Gott — (das muß der Philoſoph der
Natur ſchon ſagen) was Gott einen Augenblick kann, kann er zween; und was er zween kann,
vier — u. ſ. f.

Schon der Philoſoph, der lebt, und wenn der Materialismus wahr waͤre, ja um nichts
minder leben und denken wuͤrde — ſchon der Philoſoph ſollt’ um des Materialismus willen — an
der Moͤglichkeit des Lebens, der Lebensfortdauer — der Auferſtehung, nicht zweifeln. Aber, ſo
iſt’s nun einmal — Es iſt ſelten ein Theologe ſeiner Theologie, ein Philoſoph ſeiner Philoſophie
treu — Alle nur bis auf einen gewiſſen Punkt — und druͤber hinaus ſind alle gleichrichtige Conſe-
quenzen — Umwahrheit!

Genug; ich bin kein Materialiſt, ich unterſcheide im Menſchen ein unſichtbares, beleben-
des, ſich ſelbſt im Koͤrper als Herr des Koͤrpers empfindendes Weſen. — Obgleich ich dieſes We-
ſen fuͤr ſchlechterdings unerforſchlich, alle Bemuͤhungen, das Weſen dieſes lebendigmachenden

Geiſtes
Phyſ. Fragm. III Verſuch. B
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[9/0025] Reviſion des erſten Bandes. Menſch, und wenn alle Wolfe und Leibnitze, alle Carteſiuſſe und Bonnets, alle Euler und Neutone in ihm vereinigt waͤren — niemals wird entſcheiden koͤnnen — was innere Geiſtesna- tur — innere Koͤrpernatur iſt — Und ſo lange ſie davon nichts ganz gewiſſes wiſſen, davon keine anſchauende Erkenntniß haben — halt’ ich’s fuͤr Vermeſſenheit und Traͤumerey, uͤber die Natur der Seele und des Koͤrpers, ihre Vereinigung und Jneinanderwuͤrkung, metaphyſiſche Syſte- me zu bauen. — Auch ſcheu ich mich nicht zu ſagen — daß, wenn mir der Materialismus an ſich vernuͤnf- tiger vorkaͤme, als irgend ein ander Syſtem, ich Materialiſt ſeyn und es zu ſeyn bekennen wuͤrde. Was iſt, oder mir als ſeyend vorkoͤmmt; was alſo fuͤr mich — iſt — darf als ſeyend angezeigt und bezeugt werden — in ſo fern ein Philoſoph mit Philoſophen ſpricht. Endlich fuͤg’ ich auch noch dieß bey — daß, beym Glauben an eine goͤttliche Offenba- rung — deren Hauptinnhalt ein lebendiger Gott iſt, der alle Dinge durch Jeſum Chriſtum lebendig macht, ein denkender Menſch vom Materialismus keinen Nachtheil hat. Warum? weil er, ohne wiſſen zu duͤrfen, wie? und wie moͤglich? ſich an Gottes ſimple Offenbarungen haͤlt; keiner einfachen Subſtanzen zu ſeinem Glauben an Unſterblichkeit bedarf — und ſich vor einem materialiſchen Weſen nicht fuͤrchtet — wenn ein allbelebender Gott iſt — der in einem einzigen Au- genblick eine lebendige Materie — darſtellen konnte. Was Gott — (das muß der Philoſoph der Natur ſchon ſagen) was Gott einen Augenblick kann, kann er zween; und was er zween kann, vier — u. ſ. f. Schon der Philoſoph, der lebt, und wenn der Materialismus wahr waͤre, ja um nichts minder leben und denken wuͤrde — ſchon der Philoſoph ſollt’ um des Materialismus willen — an der Moͤglichkeit des Lebens, der Lebensfortdauer — der Auferſtehung, nicht zweifeln. Aber, ſo iſt’s nun einmal — Es iſt ſelten ein Theologe ſeiner Theologie, ein Philoſoph ſeiner Philoſophie treu — Alle nur bis auf einen gewiſſen Punkt — und druͤber hinaus ſind alle gleichrichtige Conſe- quenzen — Umwahrheit! Genug; ich bin kein Materialiſt, ich unterſcheide im Menſchen ein unſichtbares, beleben- des, ſich ſelbſt im Koͤrper als Herr des Koͤrpers empfindendes Weſen. — Obgleich ich dieſes We- ſen fuͤr ſchlechterdings unerforſchlich, alle Bemuͤhungen, das Weſen dieſes lebendigmachenden Geiſtes Phyſ. Fragm. III Verſuch. B

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/25>, abgerufen am 26.04.2024.