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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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Ueber griechische Gesichter.
Tafel B.
Griechische Gesichter. Melanthus; Praxiteles; Aristoteles; Plato.
3. Tafel des
III. Bandes.

B. Wieder vier nicht gemeine, unter Millionen nicht leicht zu findende Gesich-
ter. Alle, wiewohl in ungleichem Grade, voll Drang und Würksamkeit.

Die würklich ungeheuer große Stirn von Melanthus macht die ganze mittlere
Parthey vom Auge bis zum Munde -- kleinlich, obgleich an sich weder Auge noch Nase, noch
Mund kleinlich ist. Diese ungeheure Stirn verräth einen furchtbaren Reichthum, einen unbe-
zwinglichen Eigensinn der Rechthaberey ohne Kraft -- und wenig Feinheit und Adel der Seele.
So ist auch das zwar schlecht gezeichnete Auge -- mehr des feurigen, als des erhabenen Charak-
ters. Jm Munde ist ebenfalls nur guter, nicht erhabener Verstand, mit etwas süßlicher Bonho-
mie tingirt. Die Nase ist vollkommen in diesem Charakter; nicht gemein und nicht erhaben. Alle-
mal ist breiter Rücken der Nase, verlaßt Euch drauf, zuverläßiges Zeichen von mehr als gemein
bürgerlichem Charakter. Je paralleler die beyden Enden des Nasenrückens laufen, desto erhabener,
fester, edler, zuverläßiger der Charakter.

Praxiteles ein seltenes Gemisch von Größe und Kleinheit -- natürlicher Größe und an-
geflickter Kleinheit. Stirn und Nase feiner und edler, als in Melanthus; aber der zu ferne Ab-
stand des Mundes von der Nase verdirbt wieder alles.
Aristoteles, auch in dieser schiefen Zeichnung, (denn offenbar steht das linke Auge und der
Mund am unrechten Orte) dennoch unverkennbare Größe, welch männlich arbeitendes Denken
zwischen den Augenbraunen -- die Nase, schön und gut -- doch gewiß für den großen Mann, der
so viele Welten in seinem Kopfe trägt, nicht scharf genug. Der Mund an sich betrachtet, herrlich!
der Bart voll Fruchtbarkeit.
Plato, oder Larve von Plato! denn weg alle Feinheit der Umrisse -- und alle Wahr-
heit -- im Umrisse der Stirn, der Augen, des Mundes -- Jn der Form des Ganzen -- und
in der Nase allein noch Spuren des göttlichen Platons.
Tafel
G 2
Ueber griechiſche Geſichter.
Tafel B.
Griechiſche Geſichter. Melanthus; Praxiteles; Ariſtoteles; Plato.
3. Tafel des
III. Bandes.

B. Wieder vier nicht gemeine, unter Millionen nicht leicht zu findende Geſich-
ter. Alle, wiewohl in ungleichem Grade, voll Drang und Wuͤrkſamkeit.

Die wuͤrklich ungeheuer große Stirn von Melanthus macht die ganze mittlere
Parthey vom Auge bis zum Munde — kleinlich, obgleich an ſich weder Auge noch Naſe, noch
Mund kleinlich iſt. Dieſe ungeheure Stirn verraͤth einen furchtbaren Reichthum, einen unbe-
zwinglichen Eigenſinn der Rechthaberey ohne Kraft — und wenig Feinheit und Adel der Seele.
So iſt auch das zwar ſchlecht gezeichnete Auge — mehr des feurigen, als des erhabenen Charak-
ters. Jm Munde iſt ebenfalls nur guter, nicht erhabener Verſtand, mit etwas ſuͤßlicher Bonho-
mie tingirt. Die Naſe iſt vollkommen in dieſem Charakter; nicht gemein und nicht erhaben. Alle-
mal iſt breiter Ruͤcken der Naſe, verlaßt Euch drauf, zuverlaͤßiges Zeichen von mehr als gemein
buͤrgerlichem Charakter. Je paralleler die beyden Enden des Naſenruͤckens laufen, deſto erhabener,
feſter, edler, zuverlaͤßiger der Charakter.

Praxiteles ein ſeltenes Gemiſch von Groͤße und Kleinheit — natuͤrlicher Groͤße und an-
geflickter Kleinheit. Stirn und Naſe feiner und edler, als in Melanthus; aber der zu ferne Ab-
ſtand des Mundes von der Naſe verdirbt wieder alles.
Ariſtoteles, auch in dieſer ſchiefen Zeichnung, (denn offenbar ſteht das linke Auge und der
Mund am unrechten Orte) dennoch unverkennbare Groͤße, welch maͤnnlich arbeitendes Denken
zwiſchen den Augenbraunen — die Naſe, ſchoͤn und gut — doch gewiß fuͤr den großen Mann, der
ſo viele Welten in ſeinem Kopfe traͤgt, nicht ſcharf genug. Der Mund an ſich betrachtet, herrlich!
der Bart voll Fruchtbarkeit.
Plato, oder Larve von Plato! denn weg alle Feinheit der Umriſſe — und alle Wahr-
heit — im Umriſſe der Stirn, der Augen, des Mundes — Jn der Form des Ganzen — und
in der Naſe allein noch Spuren des goͤttlichen Platons.
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[51/0073] Ueber griechiſche Geſichter. Tafel B. Griechiſche Geſichter. Melanthus; Praxiteles; Ariſtoteles; Plato. B. Wieder vier nicht gemeine, unter Millionen nicht leicht zu findende Geſich- ter. Alle, wiewohl in ungleichem Grade, voll Drang und Wuͤrkſamkeit. Die wuͤrklich ungeheuer große Stirn von Melanthus macht die ganze mittlere Parthey vom Auge bis zum Munde — kleinlich, obgleich an ſich weder Auge noch Naſe, noch Mund kleinlich iſt. Dieſe ungeheure Stirn verraͤth einen furchtbaren Reichthum, einen unbe- zwinglichen Eigenſinn der Rechthaberey ohne Kraft — und wenig Feinheit und Adel der Seele. So iſt auch das zwar ſchlecht gezeichnete Auge — mehr des feurigen, als des erhabenen Charak- ters. Jm Munde iſt ebenfalls nur guter, nicht erhabener Verſtand, mit etwas ſuͤßlicher Bonho- mie tingirt. Die Naſe iſt vollkommen in dieſem Charakter; nicht gemein und nicht erhaben. Alle- mal iſt breiter Ruͤcken der Naſe, verlaßt Euch drauf, zuverlaͤßiges Zeichen von mehr als gemein buͤrgerlichem Charakter. Je paralleler die beyden Enden des Naſenruͤckens laufen, deſto erhabener, feſter, edler, zuverlaͤßiger der Charakter. Praxiteles ein ſeltenes Gemiſch von Groͤße und Kleinheit — natuͤrlicher Groͤße und an- geflickter Kleinheit. Stirn und Naſe feiner und edler, als in Melanthus; aber der zu ferne Ab- ſtand des Mundes von der Naſe verdirbt wieder alles. Ariſtoteles, auch in dieſer ſchiefen Zeichnung, (denn offenbar ſteht das linke Auge und der Mund am unrechten Orte) dennoch unverkennbare Groͤße, welch maͤnnlich arbeitendes Denken zwiſchen den Augenbraunen — die Naſe, ſchoͤn und gut — doch gewiß fuͤr den großen Mann, der ſo viele Welten in ſeinem Kopfe traͤgt, nicht ſcharf genug. Der Mund an ſich betrachtet, herrlich! der Bart voll Fruchtbarkeit. Plato, oder Larve von Plato! denn weg alle Feinheit der Umriſſe — und alle Wahr- heit — im Umriſſe der Stirn, der Augen, des Mundes — Jn der Form des Ganzen — und in der Naſe allein noch Spuren des goͤttlichen Platons. Tafel G 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/73>, abgerufen am 18.12.2024.