Nichts von der heitern Laune, nichts von der Grazie, nichts von der gefälligen Biegsamkeit der Natur -- aber sonst, welch ein redendes Gesicht! Nein; so ein Gesicht sollte man nicht redend heißen -- so stille sprechen alle Gesichtszüge! so stille fließen alle einzelne Wörter aller einzelnen Gesichtszüge in Eine Sprache, beynah in einen einfachen Laut zusammen; beynahe, etwa den Mund ausgenommen, alles gleich wahr, alles gleich unwahr in diesem Gesichte. Beynah alles hat in gleichem Maaße Grazie und Freyheit der Natur -- verloren. Wie das vorige, dasselbe Gesicht, zu süßlich scheint -- so in demselben Grade das gegenwärtige zu trocken. Allemal aber ein Gesicht, bestimmt unter zehntausenden hervorzuleuchten. Allemal ein Gesicht, das sich her- vordrängt, wenn's nicht hervorgezogen wird; hervorgezogen wird, wenn es sich nicht hervordrängt. Jn allen Schattenrissen, deren wohl viere, alle sich unähnlich, in diesem Bande vorkommen, *) sich auszeichnend; nie platt, nie gemein bürgerlich, nie Geistlos. Jmmer ein Gesicht, das ohne Prätension -- prätendirt.
Fürs erste zeigt das Ganze sogleich auf einmal einen Mann von Kraft und Sinn. Keine vage, stumpfe Seele kann in diesem Gesichte wohnen -- aber auch keine poetisierende, Himmelan- schwebende, ätherische Verliebtheit.
Jn der Stirne -- ihrer Höhe, Geradheit, Wölbung, Lage -- schmilzt Kraft und Em- pfindsamkeit -- zusammen -- keine stark gewölbte Rundung im Profile; dennoch nichts Linealge- rades, nichts scharfeckigtes. Durchdringenden Verstand, ausgebreitetes Wissen, lebhafte Jma- gination, treffenden Witz, feinen Geschmack -- kann kein Menschenverstand, dem Urbilde wenig- stens, absprechen. Hier hat die Stirne, so wie sie uns erscheint -- mehr Kraft und Verstand, als Witz.
Die
*) Einer, gerade der erste, unter den vier Silhouetten des vierten Fragments.
XII. Abſchnitt. V. Fragment.
b)Ein ſchattirtes Profil.Z.
Nichts von der heitern Laune, nichts von der Grazie, nichts von der gefaͤlligen Biegſamkeit der Natur — aber ſonſt, welch ein redendes Geſicht! Nein; ſo ein Geſicht ſollte man nicht redend heißen — ſo ſtille ſprechen alle Geſichtszuͤge! ſo ſtille fließen alle einzelne Woͤrter aller einzelnen Geſichtszuͤge in Eine Sprache, beynah in einen einfachen Laut zuſammen; beynahe, etwa den Mund ausgenommen, alles gleich wahr, alles gleich unwahr in dieſem Geſichte. Beynah alles hat in gleichem Maaße Grazie und Freyheit der Natur — verloren. Wie das vorige, daſſelbe Geſicht, zu ſuͤßlich ſcheint — ſo in demſelben Grade das gegenwaͤrtige zu trocken. Allemal aber ein Geſicht, beſtimmt unter zehntauſenden hervorzuleuchten. Allemal ein Geſicht, das ſich her- vordraͤngt, wenn’s nicht hervorgezogen wird; hervorgezogen wird, wenn es ſich nicht hervordraͤngt. Jn allen Schattenriſſen, deren wohl viere, alle ſich unaͤhnlich, in dieſem Bande vorkommen, *) ſich auszeichnend; nie platt, nie gemein buͤrgerlich, nie Geiſtlos. Jmmer ein Geſicht, das ohne Praͤtenſion — praͤtendirt.
Fuͤrs erſte zeigt das Ganze ſogleich auf einmal einen Mann von Kraft und Sinn. Keine vage, ſtumpfe Seele kann in dieſem Geſichte wohnen — aber auch keine poetiſierende, Himmelan- ſchwebende, aͤtheriſche Verliebtheit.
Jn der Stirne — ihrer Hoͤhe, Geradheit, Woͤlbung, Lage — ſchmilzt Kraft und Em- pfindſamkeit — zuſammen — keine ſtark gewoͤlbte Rundung im Profile; dennoch nichts Linealge- rades, nichts ſcharfeckigtes. Durchdringenden Verſtand, ausgebreitetes Wiſſen, lebhafte Jma- gination, treffenden Witz, feinen Geſchmack — kann kein Menſchenverſtand, dem Urbilde wenig- ſtens, abſprechen. Hier hat die Stirne, ſo wie ſie uns erſcheint — mehr Kraft und Verſtand, als Witz.
Die
*) Einer, gerade der erſte, unter den vier Silhouetten des vierten Fragments.
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XII. Abſchnitt. V. Fragment.
b) Ein ſchattirtes Profil. Z.
Nichts von der heitern Laune, nichts von der Grazie, nichts von der gefaͤlligen Biegſamkeit der
Natur — aber ſonſt, welch ein redendes Geſicht! Nein; ſo ein Geſicht ſollte man nicht redend
heißen — ſo ſtille ſprechen alle Geſichtszuͤge! ſo ſtille fließen alle einzelne Woͤrter aller einzelnen
Geſichtszuͤge in Eine Sprache, beynah in einen einfachen Laut zuſammen; beynahe, etwa den
Mund ausgenommen, alles gleich wahr, alles gleich unwahr in dieſem Geſichte. Beynah alles
hat in gleichem Maaße Grazie und Freyheit der Natur — verloren. Wie das vorige, daſſelbe
Geſicht, zu ſuͤßlich ſcheint — ſo in demſelben Grade das gegenwaͤrtige zu trocken. Allemal aber
ein Geſicht, beſtimmt unter zehntauſenden hervorzuleuchten. Allemal ein Geſicht, das ſich her-
vordraͤngt, wenn’s nicht hervorgezogen wird; hervorgezogen wird, wenn es ſich nicht hervordraͤngt.
Jn allen Schattenriſſen, deren wohl viere, alle ſich unaͤhnlich, in dieſem Bande vorkommen, *)
ſich auszeichnend; nie platt, nie gemein buͤrgerlich, nie Geiſtlos. Jmmer ein Geſicht, das ohne
Praͤtenſion — praͤtendirt.
Fuͤrs erſte zeigt das Ganze ſogleich auf einmal einen Mann von Kraft und Sinn. Keine
vage, ſtumpfe Seele kann in dieſem Geſichte wohnen — aber auch keine poetiſierende, Himmelan-
ſchwebende, aͤtheriſche Verliebtheit.
Jn der Stirne — ihrer Hoͤhe, Geradheit, Woͤlbung, Lage — ſchmilzt Kraft und Em-
pfindſamkeit — zuſammen — keine ſtark gewoͤlbte Rundung im Profile; dennoch nichts Linealge-
rades, nichts ſcharfeckigtes. Durchdringenden Verſtand, ausgebreitetes Wiſſen, lebhafte Jma-
gination, treffenden Witz, feinen Geſchmack — kann kein Menſchenverſtand, dem Urbilde wenig-
ſtens, abſprechen. Hier hat die Stirne, ſo wie ſie uns erſcheint — mehr Kraft und Verſtand,
als Witz.
Die
*) Einer, gerade der erſte, unter den vier Silhouetten des vierten Fragments.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/550>, abgerufen am 03.03.2025.
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