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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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XI. Abschnitt. XXI. Fragment.
Einundzwanzigstes Fragment.
Zwölf Frauenköpfe nach verschiedenen Originalen und Copien.

Von den Originalen kein Wort. Hier sehr matte, sehr verzogne Copien. Jn allen auffallende
Fehler; aber in allen noch Ausdruck und -- Natur!

1.*) -- Keine gemeine Frau! wird auch der ungeübteste Physiognomist sagen -- Nein --
Nichts bürgerlich Kleinstädtisches! -- Jm zu kleinlichen Mund ausgenommen -- Einfalt und
Würde, schneller Entschluß, Kraft und That, gebietende Ausführung ist im ganzen Umriß; vor-
nehmlich im treffend hinschauenden Blicke! -- Aber dann wieder der bloß durch geringe Mißzeich-
nung zur Gemeinheit abgeschliffene -- an sich -- immer vortreffliche Mund! -- Sonst wie
weit aus dieß Profil über alle auf diesem Blatte groß, ohne jedoch erhaben zu seyn!
2. Erhaben -- ist nur dieß! -- und auf diesem Blatte mein Gesicht; obgleich auch
wieder sichtbar erniedrigt und vergröbert -- dennoch die einzige, die ich mir zur Königinn, und
als die liebste und verehrteste, zur Gesellschafterinn wählte -- Das heiß ich Mannsseele in erhabner
Weiblichkeit! Das nenn' ich Blick angeborner Größe! Vom Ende der linken Augenbraune, den
Rücken der Nase hinab -- da schwebten Entwürfe, Weisheit, stille Thaten. Auch noch im miß-
zeichneten Munde -- Empfindung, Weisheit, Geschmack. Jch charakterisire die Königinn
nicht. Jch stammle nur was über ein schwaches Nachbild von ihr. O in hundert tausend Gesich-
tern, wo findst du dieß Auge? Dieses Auges hell und tief durchschauenden Blick?
3. Du magst noch so schön heißen; dein Auge mag noch so lauter und groß, und rein und
bezaubernd seyn! Jn deiner Nase vereinigen sich noch so sehr Reiz der Wollust und kindliche Un-
schuld -- wenn auch dein Mund, richtiger gezeichnet, noch mehr Gutheit und unwiderstehliche
Schmeichelberedsamkeit athmete -- und wenn du nicht in Wollust nur, in himmlischer Andacht
auch zerfließen könntest -- Jch bin zu voll vom Blicke des zweyten Gesichtes, als daß du mich
rührest.
4. So
*) Wir hatten dieß Bild vorne besser --
XI. Abſchnitt. XXI. Fragment.
Einundzwanzigſtes Fragment.
Zwoͤlf Frauenkoͤpfe nach verſchiedenen Originalen und Copien.

Von den Originalen kein Wort. Hier ſehr matte, ſehr verzogne Copien. Jn allen auffallende
Fehler; aber in allen noch Ausdruck und — Natur!

1.*) — Keine gemeine Frau! wird auch der ungeuͤbteſte Phyſiognomiſt ſagen — Nein —
Nichts buͤrgerlich Kleinſtaͤdtiſches! — Jm zu kleinlichen Mund ausgenommen — Einfalt und
Wuͤrde, ſchneller Entſchluß, Kraft und That, gebietende Ausfuͤhrung iſt im ganzen Umriß; vor-
nehmlich im treffend hinſchauenden Blicke! — Aber dann wieder der bloß durch geringe Mißzeich-
nung zur Gemeinheit abgeſchliffene — an ſich — immer vortreffliche Mund! — Sonſt wie
weit aus dieß Profil uͤber alle auf dieſem Blatte groß, ohne jedoch erhaben zu ſeyn!
2. Erhaben — iſt nur dieß! — und auf dieſem Blatte mein Geſicht; obgleich auch
wieder ſichtbar erniedrigt und vergroͤbert — dennoch die einzige, die ich mir zur Koͤniginn, und
als die liebſte und verehrteſte, zur Geſellſchafterinn waͤhlte — Das heiß ich Mannsſeele in erhabner
Weiblichkeit! Das nenn’ ich Blick angeborner Groͤße! Vom Ende der linken Augenbraune, den
Ruͤcken der Naſe hinab — da ſchwebten Entwuͤrfe, Weisheit, ſtille Thaten. Auch noch im miß-
zeichneten Munde — Empfindung, Weisheit, Geſchmack. Jch charakteriſire die Koͤniginn
nicht. Jch ſtammle nur was uͤber ein ſchwaches Nachbild von ihr. O in hundert tauſend Geſich-
tern, wo findſt du dieß Auge? Dieſes Auges hell und tief durchſchauenden Blick?
3. Du magſt noch ſo ſchoͤn heißen; dein Auge mag noch ſo lauter und groß, und rein und
bezaubernd ſeyn! Jn deiner Naſe vereinigen ſich noch ſo ſehr Reiz der Wolluſt und kindliche Un-
ſchuld — wenn auch dein Mund, richtiger gezeichnet, noch mehr Gutheit und unwiderſtehliche
Schmeichelberedſamkeit athmete — und wenn du nicht in Wolluſt nur, in himmliſcher Andacht
auch zerfließen koͤnnteſt — Jch bin zu voll vom Blicke des zweyten Geſichtes, als daß du mich
ruͤhreſt.
4. So
*) Wir hatten dieß Bild vorne beſſer —
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[328/0532] XI. Abſchnitt. XXI. Fragment. Einundzwanzigſtes Fragment. Zwoͤlf Frauenkoͤpfe nach verſchiedenen Originalen und Copien. Von den Originalen kein Wort. Hier ſehr matte, ſehr verzogne Copien. Jn allen auffallende Fehler; aber in allen noch Ausdruck und — Natur! 1. *) — Keine gemeine Frau! wird auch der ungeuͤbteſte Phyſiognomiſt ſagen — Nein — Nichts buͤrgerlich Kleinſtaͤdtiſches! — Jm zu kleinlichen Mund ausgenommen — Einfalt und Wuͤrde, ſchneller Entſchluß, Kraft und That, gebietende Ausfuͤhrung iſt im ganzen Umriß; vor- nehmlich im treffend hinſchauenden Blicke! — Aber dann wieder der bloß durch geringe Mißzeich- nung zur Gemeinheit abgeſchliffene — an ſich — immer vortreffliche Mund! — Sonſt wie weit aus dieß Profil uͤber alle auf dieſem Blatte groß, ohne jedoch erhaben zu ſeyn! 2. Erhaben — iſt nur dieß! — und auf dieſem Blatte mein Geſicht; obgleich auch wieder ſichtbar erniedrigt und vergroͤbert — dennoch die einzige, die ich mir zur Koͤniginn, und als die liebſte und verehrteſte, zur Geſellſchafterinn waͤhlte — Das heiß ich Mannsſeele in erhabner Weiblichkeit! Das nenn’ ich Blick angeborner Groͤße! Vom Ende der linken Augenbraune, den Ruͤcken der Naſe hinab — da ſchwebten Entwuͤrfe, Weisheit, ſtille Thaten. Auch noch im miß- zeichneten Munde — Empfindung, Weisheit, Geſchmack. Jch charakteriſire die Koͤniginn nicht. Jch ſtammle nur was uͤber ein ſchwaches Nachbild von ihr. O in hundert tauſend Geſich- tern, wo findſt du dieß Auge? Dieſes Auges hell und tief durchſchauenden Blick? 3. Du magſt noch ſo ſchoͤn heißen; dein Auge mag noch ſo lauter und groß, und rein und bezaubernd ſeyn! Jn deiner Naſe vereinigen ſich noch ſo ſehr Reiz der Wolluſt und kindliche Un- ſchuld — wenn auch dein Mund, richtiger gezeichnet, noch mehr Gutheit und unwiderſtehliche Schmeichelberedſamkeit athmete — und wenn du nicht in Wolluſt nur, in himmliſcher Andacht auch zerfließen koͤnnteſt — Jch bin zu voll vom Blicke des zweyten Geſichtes, als daß du mich ruͤhreſt. 4. So *) Wir hatten dieß Bild vorne beſſer —

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/532>, abgerufen am 18.12.2024.