Frauenspersonen. Sechstes Fragment. Ein großes Frauenzimmergesicht von vornen.
Des III. Ban- des LXXXIII. Tafel. G.
Jch kannte dieses Gesicht als ein Kind -- da war's ein liebenswürdiger Engel -- wie ähnlich dieß Bild sey, weiß ich nicht. Genug, es ist das Bild einer edeln, zärtli- chen, aufrichtigen, Verstand- und Fähigkeitsreichen Seele. Die Stirne, wie sie hier erscheint, ist unverworren und offen -- hellsehend, richtig sehend; aber eben nicht tiefgrabend. Form und Lage der Augenbraunen, und der Raum dazwischen zeigt nicht gemeine Verstandesfähigkeit -- die aber doch durch die Länge des Raums bis zu den Augenwinkeln, wenn man sich diesen als einen Dreyangel denkt -- etwas gedämpft zu werden scheint. -- Die Augen, in denen, überhaupt be- trachtet, so viel Physiognomie, so viel zarte Liebe ist -- scheinen mir dennoch unwahr und nicht richtig gezeichnet. Der Bogen gerade über dem Augapfel hat gewiß in der Natur nicht diese etwas matte Wölbung.
Die Nase ist nicht der hochgebietenden eine -- nicht der harten, nicht der luftigen, nicht der unempfindlichen eine; voll Adel, Ruhe, Weisheit -- Geduld und Liebe ... Der gewiß karrika- turirte, oder wenn ihr lieber wollt, manierirte Mund -- ist dennoch auch so noch voll der sanfte- sten, edelsten, reinsten Bescheidenheit und Güte .. So auch das Kinn! -- Mehr Wahrheit in den Augen -- Sonst alles in der einfachsten Harmonie -- bis auf die Stellung des Kopfes. Die Ohren sind fatal gezeichnet, und plump. Desto schöner das Oval des Gesichtes -- das so guten Eindruck für die Einfachheit des Charakters zu machen scheint.
Siebentes
Frauensperſonen. Sechstes Fragment. Ein großes Frauenzimmergeſicht von vornen.
Des III. Ban- des LXXXIII. Tafel. G.
Jch kannte dieſes Geſicht als ein Kind — da war’s ein liebenswuͤrdiger Engel — wie aͤhnlich dieß Bild ſey, weiß ich nicht. Genug, es iſt das Bild einer edeln, zaͤrtli- chen, aufrichtigen, Verſtand- und Faͤhigkeitsreichen Seele. Die Stirne, wie ſie hier erſcheint, iſt unverworren und offen — hellſehend, richtig ſehend; aber eben nicht tiefgrabend. Form und Lage der Augenbraunen, und der Raum dazwiſchen zeigt nicht gemeine Verſtandesfaͤhigkeit — die aber doch durch die Laͤnge des Raums bis zu den Augenwinkeln, wenn man ſich dieſen als einen Dreyangel denkt — etwas gedaͤmpft zu werden ſcheint. — Die Augen, in denen, uͤberhaupt be- trachtet, ſo viel Phyſiognomie, ſo viel zarte Liebe iſt — ſcheinen mir dennoch unwahr und nicht richtig gezeichnet. Der Bogen gerade uͤber dem Augapfel hat gewiß in der Natur nicht dieſe etwas matte Woͤlbung.
Die Naſe iſt nicht der hochgebietenden eine — nicht der harten, nicht der luftigen, nicht der unempfindlichen eine; voll Adel, Ruhe, Weisheit — Geduld und Liebe ... Der gewiß karrika- turirte, oder wenn ihr lieber wollt, manierirte Mund — iſt dennoch auch ſo noch voll der ſanfte- ſten, edelſten, reinſten Beſcheidenheit und Guͤte .. So auch das Kinn! — Mehr Wahrheit in den Augen — Sonſt alles in der einfachſten Harmonie — bis auf die Stellung des Kopfes. Die Ohren ſind fatal gezeichnet, und plump. Deſto ſchoͤner das Oval des Geſichtes — das ſo guten Eindruck fuͤr die Einfachheit des Charakters zu machen ſcheint.
Siebentes
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0485"n="303"/><divn="2"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Frauensperſonen.</hi><lb/>
Sechstes Fragment.<lb/>
Ein großes Frauenzimmergeſicht von vornen.</hi></head><lb/><noteplace="left">Des <hirendition="#aq">III.</hi> Ban-<lb/>
des <hirendition="#aq">LXXXIII.</hi><lb/>
Tafel. <hirendition="#aq">G.</hi></note><p><hirendition="#in">J</hi>ch kannte dieſes Geſicht als ein Kind — da war’s ein liebenswuͤrdiger Engel —<lb/>
wie aͤhnlich dieß Bild ſey, weiß ich nicht. Genug, es iſt das Bild einer edeln, zaͤrtli-<lb/>
chen, aufrichtigen, Verſtand- und Faͤhigkeitsreichen Seele. Die Stirne, <hirendition="#fr">wie ſie hier erſcheint,</hi><lb/>
iſt unverworren und offen — hellſehend, richtig ſehend; aber eben nicht tiefgrabend. Form und<lb/>
Lage der Augenbraunen, und der Raum dazwiſchen zeigt nicht gemeine Verſtandesfaͤhigkeit — die<lb/>
aber doch durch die Laͤnge des Raums bis zu den Augenwinkeln, wenn man ſich dieſen als einen<lb/>
Dreyangel denkt — etwas gedaͤmpft zu werden ſcheint. — Die Augen, in denen, uͤberhaupt be-<lb/>
trachtet, ſo viel Phyſiognomie, ſo viel zarte Liebe iſt —ſcheinen mir dennoch unwahr und nicht<lb/>
richtig gezeichnet. Der Bogen gerade uͤber dem Augapfel hat gewiß in der Natur nicht dieſe etwas<lb/>
matte Woͤlbung.</p><lb/><p>Die Naſe iſt nicht der hochgebietenden eine — nicht der harten, nicht der luftigen, nicht der<lb/>
unempfindlichen eine; voll Adel, Ruhe, Weisheit — Geduld und Liebe ... Der gewiß karrika-<lb/>
turirte, oder wenn ihr lieber wollt, manierirte Mund — iſt dennoch auch ſo noch voll der ſanfte-<lb/>ſten, edelſten, reinſten Beſcheidenheit und Guͤte .. So auch das Kinn! — Mehr Wahrheit in<lb/>
den Augen — Sonſt alles in der einfachſten Harmonie — bis auf die Stellung des Kopfes. Die<lb/>
Ohren ſind fatal gezeichnet, und plump. Deſto ſchoͤner das Oval des Geſichtes — das ſo guten<lb/>
Eindruck fuͤr die Einfachheit des Charakters zu machen ſcheint.</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><fwplace="bottom"type="catch"><hirendition="#b">Siebentes</hi></fw><lb/></div></body></text></TEI>
[303/0485]
Frauensperſonen.
Sechstes Fragment.
Ein großes Frauenzimmergeſicht von vornen.
Jch kannte dieſes Geſicht als ein Kind — da war’s ein liebenswuͤrdiger Engel —
wie aͤhnlich dieß Bild ſey, weiß ich nicht. Genug, es iſt das Bild einer edeln, zaͤrtli-
chen, aufrichtigen, Verſtand- und Faͤhigkeitsreichen Seele. Die Stirne, wie ſie hier erſcheint,
iſt unverworren und offen — hellſehend, richtig ſehend; aber eben nicht tiefgrabend. Form und
Lage der Augenbraunen, und der Raum dazwiſchen zeigt nicht gemeine Verſtandesfaͤhigkeit — die
aber doch durch die Laͤnge des Raums bis zu den Augenwinkeln, wenn man ſich dieſen als einen
Dreyangel denkt — etwas gedaͤmpft zu werden ſcheint. — Die Augen, in denen, uͤberhaupt be-
trachtet, ſo viel Phyſiognomie, ſo viel zarte Liebe iſt — ſcheinen mir dennoch unwahr und nicht
richtig gezeichnet. Der Bogen gerade uͤber dem Augapfel hat gewiß in der Natur nicht dieſe etwas
matte Woͤlbung.
Die Naſe iſt nicht der hochgebietenden eine — nicht der harten, nicht der luftigen, nicht der
unempfindlichen eine; voll Adel, Ruhe, Weisheit — Geduld und Liebe ... Der gewiß karrika-
turirte, oder wenn ihr lieber wollt, manierirte Mund — iſt dennoch auch ſo noch voll der ſanfte-
ſten, edelſten, reinſten Beſcheidenheit und Guͤte .. So auch das Kinn! — Mehr Wahrheit in
den Augen — Sonſt alles in der einfachſten Harmonie — bis auf die Stellung des Kopfes. Die
Ohren ſind fatal gezeichnet, und plump. Deſto ſchoͤner das Oval des Geſichtes — das ſo guten
Eindruck fuͤr die Einfachheit des Charakters zu machen ſcheint.
Siebentes
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/485>, abgerufen am 18.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.