Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.XI. Abschnitt. I. Fragment. Erstes Fragment. Allgemeine Betrachtungen. So viel muß ich gleich anfangs sagen: Jch weiß sehr wenig über die weibliche Hälfte des mensch- Also sollt' ich vielleicht dieß ganze große Kapitel der Physiognomik überschlagen, da ich so Aber mit dem Ueberlassen solcher Kapitel ist's wieder so eine eigne gefährliche Sache. Zum Hinsinken erblaß ich oft bey dem mich mehrmals so ernstlich anwinkenden Gedanken: Gewiß, denk' ich oft, geht's der Physiognomik nicht besser, als der Philosophie, Poesie, Arz- Doch ich will nicht verzagen. Alles menschliche muß erst halb seyn, eh' es ganz seyn Aechter, reiner physiognomischer Sinn in Ansehung des weiblichen Geschlechtes ist die beste Die beste Würze und Stärkung des menschlichen Lebens. Was
XI. Abſchnitt. I. Fragment. Erſtes Fragment. Allgemeine Betrachtungen. So viel muß ich gleich anfangs ſagen: Jch weiß ſehr wenig uͤber die weibliche Haͤlfte des menſch- Alſo ſollt’ ich vielleicht dieß ganze große Kapitel der Phyſiognomik uͤberſchlagen, da ich ſo Aber mit dem Ueberlaſſen ſolcher Kapitel iſt’s wieder ſo eine eigne gefaͤhrliche Sache. Zum Hinſinken erblaß ich oft bey dem mich mehrmals ſo ernſtlich anwinkenden Gedanken: Gewiß, denk’ ich oft, geht’s der Phyſiognomik nicht beſſer, als der Philoſophie, Poeſie, Arz- Doch ich will nicht verzagen. Alles menſchliche muß erſt halb ſeyn, eh’ es ganz ſeyn Aechter, reiner phyſiognomiſcher Sinn in Anſehung des weiblichen Geſchlechtes iſt die beſte Die beſte Wuͤrze und Staͤrkung des menſchlichen Lebens. Was
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0464" n="290"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XI.</hi> Abſchnitt. <hi rendition="#aq">I.</hi> Fragment.</hi> </fw><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Erſtes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Allgemeine Betrachtungen.</hi></hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">S</hi>o viel muß ich gleich anfangs ſagen: Jch weiß ſehr wenig uͤber die weibliche Haͤlfte des menſch-<lb/> lichen Geſchlechts zu ſchreiben; der gemeinſte Weltmann muß mehr davon wiſſen. Jch habe aͤußerſt<lb/> ſelten Anlaß gehabt, weibliche Geſchoͤpfe zu kennen, wo ſie gekannt und ſtudiert werden koͤnnen. Jch<lb/> habe ſie nie im Schauſpiele, nie beym Tanze, nie beym Spiele geſehen. Jn meinen fruͤhern Jahren<lb/> war ich beynahe Weiberſcheu — und ich war nie — <hi rendition="#fr">verliebt.</hi></p><lb/> <p>Alſo ſollt’ ich vielleicht dieß ganze große Kapitel der Phyſiognomik uͤberſchlagen, da ich ſo<lb/> wenig Kenntniß des weiblichen Geſchlechtes habe — uͤberſchlagen, und es einem <hi rendition="#fr">Kenner uͤberlaſſen.</hi></p><lb/> <p>Aber mit dem <hi rendition="#fr">Ueberlaſſen</hi> ſolcher Kapitel iſt’s wieder ſo eine eigne gefaͤhrliche Sache.<lb/> Darf ich nicht zweifeln, ob ein anderer, wer er auch ſeyn moͤge, daſſelbe ſo behandeln wuͤrde, wie ich’s<lb/> wuͤnſchte? Ob er gerade das ſagen wuͤrde, was ich, <hi rendition="#fr">ſo wenig es ſeyn mag,</hi> zu ſagen fuͤr wichtig<lb/> und noͤthig achte? —</p><lb/> <p>Zum Hinſinken erblaß ich oft bey dem mich mehrmals ſo ernſtlich anwinkenden Gedanken:<lb/> „Wie unausſprechlich <hi rendition="#fr">wider meine Abſicht</hi> das phyſiognomiſche Studium in Anſehung des weib-<lb/> „lichen Geſchlechtes <hi rendition="#fr">gemißbraucht</hi> werden koͤnnte!“ —</p><lb/> <p>Gewiß, denk’ ich oft, geht’s der Phyſiognomik nicht beſſer, als der Philoſophie, Poeſie, Arz-<lb/> neykunſt, und was ſonſt Wiſſenſchaft und Kunſt heißen mag. <hi rendition="#fr">Halbe Philoſophie</hi> fuͤhrt zum<lb/><hi rendition="#fr">Atheismus; ganze</hi> zum <hi rendition="#fr">Chriſtenthum.</hi> So duͤrft’ es der <hi rendition="#fr">Phyſiognomik</hi> auch gehen!</p><lb/> <p>Doch ich will nicht verzagen. Alles <hi rendition="#fr">menſchliche</hi> muß erſt <hi rendition="#fr">halb</hi> ſeyn, eh’ es <hi rendition="#fr">ganz</hi> ſeyn<lb/> kann. Wir lernen gehen durch Fallen. Sollten wir, <hi rendition="#fr">aus Furcht vor dem Fallen, aufs Ge-<lb/> hen Verzicht</hi> thun? Was ich gewiß weiß, iſt dieß:</p><lb/> <p>Aechter, reiner phyſiognomiſcher Sinn in Anſehung des weiblichen Geſchlechtes iſt die beſte<lb/><hi rendition="#fr">Wuͤrze und Staͤrkung des menſchlichen Lebens</hi> — und das <hi rendition="#fr">allerwuͤrkſamſte Verwah-<lb/> rungsmittel vor Erniedrigungen ſeiner ſelbſt und anderer.</hi></p><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die beſte Wuͤrze und Staͤrkung des menſchlichen Lebens.</hi> </p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Was</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [290/0464]
XI. Abſchnitt. I. Fragment.
Erſtes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen.
So viel muß ich gleich anfangs ſagen: Jch weiß ſehr wenig uͤber die weibliche Haͤlfte des menſch-
lichen Geſchlechts zu ſchreiben; der gemeinſte Weltmann muß mehr davon wiſſen. Jch habe aͤußerſt
ſelten Anlaß gehabt, weibliche Geſchoͤpfe zu kennen, wo ſie gekannt und ſtudiert werden koͤnnen. Jch
habe ſie nie im Schauſpiele, nie beym Tanze, nie beym Spiele geſehen. Jn meinen fruͤhern Jahren
war ich beynahe Weiberſcheu — und ich war nie — verliebt.
Alſo ſollt’ ich vielleicht dieß ganze große Kapitel der Phyſiognomik uͤberſchlagen, da ich ſo
wenig Kenntniß des weiblichen Geſchlechtes habe — uͤberſchlagen, und es einem Kenner uͤberlaſſen.
Aber mit dem Ueberlaſſen ſolcher Kapitel iſt’s wieder ſo eine eigne gefaͤhrliche Sache.
Darf ich nicht zweifeln, ob ein anderer, wer er auch ſeyn moͤge, daſſelbe ſo behandeln wuͤrde, wie ich’s
wuͤnſchte? Ob er gerade das ſagen wuͤrde, was ich, ſo wenig es ſeyn mag, zu ſagen fuͤr wichtig
und noͤthig achte? —
Zum Hinſinken erblaß ich oft bey dem mich mehrmals ſo ernſtlich anwinkenden Gedanken:
„Wie unausſprechlich wider meine Abſicht das phyſiognomiſche Studium in Anſehung des weib-
„lichen Geſchlechtes gemißbraucht werden koͤnnte!“ —
Gewiß, denk’ ich oft, geht’s der Phyſiognomik nicht beſſer, als der Philoſophie, Poeſie, Arz-
neykunſt, und was ſonſt Wiſſenſchaft und Kunſt heißen mag. Halbe Philoſophie fuͤhrt zum
Atheismus; ganze zum Chriſtenthum. So duͤrft’ es der Phyſiognomik auch gehen!
Doch ich will nicht verzagen. Alles menſchliche muß erſt halb ſeyn, eh’ es ganz ſeyn
kann. Wir lernen gehen durch Fallen. Sollten wir, aus Furcht vor dem Fallen, aufs Ge-
hen Verzicht thun? Was ich gewiß weiß, iſt dieß:
Aechter, reiner phyſiognomiſcher Sinn in Anſehung des weiblichen Geſchlechtes iſt die beſte
Wuͤrze und Staͤrkung des menſchlichen Lebens — und das allerwuͤrkſamſte Verwah-
rungsmittel vor Erniedrigungen ſeiner ſelbſt und anderer.
Die beſte Wuͤrze und Staͤrkung des menſchlichen Lebens.
Was
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |