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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

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X. Abschnitt. X. Fragment.

"Er baute sich selber einen Standpunkt, das vielfarbige, Gruppenreiche Gemählde des
"Lebens zu überschauen mit Seherblick, und giebt's dir nach verjüngtem Maaßstab als vertraute
"Beylage auf den Tag der Zukunft, in Bild und Gleichniß."

"Jn dieser Stirne wohnen und wälzen sich lebendig die schnell umfaßten Gestalten mora-
"lisch politischer und metaphysischer Welten -- bald Schatten, bald Licht, unter dem umwölkten
"Zepter des Sohnes Gottes; wohnet und reihet sich der Reichthum von Prophetenbildern und
"Apostelgleichnissen. Was ist vom Aufgange bis zum Niedergange, von den Glanzbergen Albor-
"di bis zu den beeisten Gipfeln Helvetiens, woher diese Stirne nicht Bild und Gleichniß nehme,
"das sie nicht in ihr allweites, majestätisches Religionsgebäude hineindränge -- oder vielmehr aus
"dem heraus beleuchte und erwärme? Der Mund, als ob er hier ungern geschlossen sey, sich
"Augenblicke öffnen wollte -- wozu? Voll Gefühl seiner selbst, voll treffenden Spottes über
"die kleinen erbärmlichen Seichtigkeiten gewisser Theologaster und Philosophaster." --

Zehntes Fragment.
Paul Vinzenz.
Des III. Ban-
des LXXIV.
Tafel.

Des Mannes Eifer und Frömmigkeit mag berühmt seyn, mag sich auf dem lebenden
Gesichte noch besser, als in dieser vielleicht vierten Copey ausgedrückt haben; dieß Ge-
sicht ist mir kein großes Gesicht. Ganz gemein ist's gewiß auch nicht. Aber das Zusammenge-
preßte, besonders von der Mitte des Gesichtes bis unter den Mund; die erstaunliche Breite der
Nase; die kleinlich mönchischen Augen -- alles mag einen frommen, religiosen Mann anzeigen --
aber nicht einen großen, freyen, festen Geist. -- Geist wohl zur Andächteley; -- zum treuherzigen
Aberglauben; zur anstrengenden Bruderliebe und Selbstaufopferung; Kraft wohl zur Ausdau-
rung Himmel verdienender Beschwerlichkeiten -- kein offener Sinn für glänzende Freuden -- aber
auch keiner für die edelsten, erhabensten, geistigsten Empsindungen, deren ein religioses Genie fä-
hig ist. -- Viel, obgleich unweichliche, gemeine Weiblichkeit. Oder in einer Haube, wem sähe

dieser
X. Abſchnitt. X. Fragment.

„Er baute ſich ſelber einen Standpunkt, das vielfarbige, Gruppenreiche Gemaͤhlde des
„Lebens zu uͤberſchauen mit Seherblick, und giebt’s dir nach verjuͤngtem Maaßſtab als vertraute
„Beylage auf den Tag der Zukunft, in Bild und Gleichniß.“

„Jn dieſer Stirne wohnen und waͤlzen ſich lebendig die ſchnell umfaßten Geſtalten mora-
„liſch politiſcher und metaphyſiſcher Welten — bald Schatten, bald Licht, unter dem umwoͤlkten
„Zepter des Sohnes Gottes; wohnet und reihet ſich der Reichthum von Prophetenbildern und
„Apoſtelgleichniſſen. Was iſt vom Aufgange bis zum Niedergange, von den Glanzbergen Albor-
„di bis zu den beeisten Gipfeln Helvetiens, woher dieſe Stirne nicht Bild und Gleichniß nehme,
„das ſie nicht in ihr allweites, majeſtaͤtiſches Religionsgebaͤude hineindraͤnge — oder vielmehr aus
„dem heraus beleuchte und erwaͤrme? Der Mund, als ob er hier ungern geſchloſſen ſey, ſich
„Augenblicke oͤffnen wollte — wozu? Voll Gefuͤhl ſeiner ſelbſt, voll treffenden Spottes uͤber
„die kleinen erbaͤrmlichen Seichtigkeiten gewiſſer Theologaſter und Philoſophaſter.“ —

Zehntes Fragment.
Paul Vinzenz.
Des III. Ban-
des LXXIV.
Tafel.

Des Mannes Eifer und Froͤmmigkeit mag beruͤhmt ſeyn, mag ſich auf dem lebenden
Geſichte noch beſſer, als in dieſer vielleicht vierten Copey ausgedruͤckt haben; dieß Ge-
ſicht iſt mir kein großes Geſicht. Ganz gemein iſt’s gewiß auch nicht. Aber das Zuſammenge-
preßte, beſonders von der Mitte des Geſichtes bis unter den Mund; die erſtaunliche Breite der
Naſe; die kleinlich moͤnchiſchen Augen — alles mag einen frommen, religioſen Mann anzeigen —
aber nicht einen großen, freyen, feſten Geiſt. — Geiſt wohl zur Andaͤchteley; — zum treuherzigen
Aberglauben; zur anſtrengenden Bruderliebe und Selbſtaufopferung; Kraft wohl zur Ausdau-
rung Himmel verdienender Beſchwerlichkeiten — kein offener Sinn fuͤr glaͤnzende Freuden — aber
auch keiner fuͤr die edelſten, erhabenſten, geiſtigſten Empſindungen, deren ein religioſes Genie faͤ-
hig iſt. — Viel, obgleich unweichliche, gemeine Weiblichkeit. Oder in einer Haube, wem ſaͤhe

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[264/0426] X. Abſchnitt. X. Fragment. „Er baute ſich ſelber einen Standpunkt, das vielfarbige, Gruppenreiche Gemaͤhlde des „Lebens zu uͤberſchauen mit Seherblick, und giebt’s dir nach verjuͤngtem Maaßſtab als vertraute „Beylage auf den Tag der Zukunft, in Bild und Gleichniß.“ „Jn dieſer Stirne wohnen und waͤlzen ſich lebendig die ſchnell umfaßten Geſtalten mora- „liſch politiſcher und metaphyſiſcher Welten — bald Schatten, bald Licht, unter dem umwoͤlkten „Zepter des Sohnes Gottes; wohnet und reihet ſich der Reichthum von Prophetenbildern und „Apoſtelgleichniſſen. Was iſt vom Aufgange bis zum Niedergange, von den Glanzbergen Albor- „di bis zu den beeisten Gipfeln Helvetiens, woher dieſe Stirne nicht Bild und Gleichniß nehme, „das ſie nicht in ihr allweites, majeſtaͤtiſches Religionsgebaͤude hineindraͤnge — oder vielmehr aus „dem heraus beleuchte und erwaͤrme? Der Mund, als ob er hier ungern geſchloſſen ſey, ſich „Augenblicke oͤffnen wollte — wozu? Voll Gefuͤhl ſeiner ſelbſt, voll treffenden Spottes uͤber „die kleinen erbaͤrmlichen Seichtigkeiten gewiſſer Theologaſter und Philoſophaſter.“ — Zehntes Fragment. Paul Vinzenz. Des Mannes Eifer und Froͤmmigkeit mag beruͤhmt ſeyn, mag ſich auf dem lebenden Geſichte noch beſſer, als in dieſer vielleicht vierten Copey ausgedruͤckt haben; dieß Ge- ſicht iſt mir kein großes Geſicht. Ganz gemein iſt’s gewiß auch nicht. Aber das Zuſammenge- preßte, beſonders von der Mitte des Geſichtes bis unter den Mund; die erſtaunliche Breite der Naſe; die kleinlich moͤnchiſchen Augen — alles mag einen frommen, religioſen Mann anzeigen — aber nicht einen großen, freyen, feſten Geiſt. — Geiſt wohl zur Andaͤchteley; — zum treuherzigen Aberglauben; zur anſtrengenden Bruderliebe und Selbſtaufopferung; Kraft wohl zur Ausdau- rung Himmel verdienender Beſchwerlichkeiten — kein offener Sinn fuͤr glaͤnzende Freuden — aber auch keiner fuͤr die edelſten, erhabenſten, geiſtigſten Empſindungen, deren ein religioſes Genie faͤ- hig iſt. — Viel, obgleich unweichliche, gemeine Weiblichkeit. Oder in einer Haube, wem ſaͤhe dieſer

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/426>, abgerufen am 18.12.2024.