Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
X. Abschnitt. IX. Fragment.
Neuntes Fragment.
Ein männliches Profil. H.

Richt Lob -- wie er's verdient; nicht Tadel .. wie man wünschen möchte -- nur einige
wenige Züge des unerforschlich großen, und unerschöpflich reichen Charakters will ich andeuten.

Wenn ich nichts von dem Urbilde wüßte, so würd' ich über dieß Bild sagen:

Ein äußerst feinsichtiger, durchdringender, vielfassender, mächtigdenkender Kopf, der be-
sonders alles Schwache, Lächerliche, Fehlerhafte der Menschheit durch und durch schaut -- übri-
gens gefällig, heiter, Freude machend.

Jn der Stirne, hätt' ich gesagt -- Witz in der Lage, großer Verstand in der Zeichnung.

Die Nase fein, aber nicht groß. Jm Auge die lichthelleste, vielfassendste Erkenntnißkraft.

Jm Munde -- Kälte, Satyre, Laune; Gefälligkeit; -- Gefälligkeit auch in der Wange
und in der Backe.

Stärke, Muth, Entschlossenheit im Halse.

So hätt' ich von dem Bilde geurtheilt, wenn ich nichts von dem Manne wüßte.

Nun thue ich hinzu -- wie ich ihn aus Schriften und Briefen kenne.

Ein immerfort wetterleuchtendes religioses Genie -- wie die Wolken- und Feuersäule dem
Jsrael lichthelle Leuchte, dem Pharao Räderzerschmetterndes Gewitter war -- so dieser Pro-
phet den Seinigen; den nicht Seinen -- Thor und Verwirrer. Und doch ist keines von die-
sen beyden auf diesem Bilde leicht sichtbar -- nicht der Prophet; nicht der wirrende Schwär-
mer! Und wer ihn kennt, findet -- Lichthelle in seinem Blicke, und die leutseligste Popularität in
seinem Umgange.

Was aber beyde, was alle, Freunde, Feinde, nahe, ferne zugeben müssen, und zuge-
ben -- ist, daß der Mann Mann und ein Stern der ersten Größe ist, wenigstens in der religios-
poetischen -- und litterarisch theologischen Welt.

Nun darf man sich den, itzt schon sehr vortheilhaften und Bedeutungsvollen Umriß der Stirne
nur kaum merkbar reiner, schärfer, angezogner denken, doch so, daß der Umriß nicht hart werde --

so
X. Abſchnitt. IX. Fragment.
Neuntes Fragment.
Ein maͤnnliches Profil. H.

Richt Lob — wie er’s verdient; nicht Tadel .. wie man wuͤnſchen moͤchte — nur einige
wenige Zuͤge des unerforſchlich großen, und unerſchoͤpflich reichen Charakters will ich andeuten.

Wenn ich nichts von dem Urbilde wuͤßte, ſo wuͤrd’ ich uͤber dieß Bild ſagen:

Ein aͤußerſt feinſichtiger, durchdringender, vielfaſſender, maͤchtigdenkender Kopf, der be-
ſonders alles Schwache, Laͤcherliche, Fehlerhafte der Menſchheit durch und durch ſchaut — uͤbri-
gens gefaͤllig, heiter, Freude machend.

Jn der Stirne, haͤtt’ ich geſagt — Witz in der Lage, großer Verſtand in der Zeichnung.

Die Naſe fein, aber nicht groß. Jm Auge die lichthelleſte, vielfaſſendſte Erkenntnißkraft.

Jm Munde — Kaͤlte, Satyre, Laune; Gefaͤlligkeit; — Gefaͤlligkeit auch in der Wange
und in der Backe.

Staͤrke, Muth, Entſchloſſenheit im Halſe.

So haͤtt’ ich von dem Bilde geurtheilt, wenn ich nichts von dem Manne wuͤßte.

Nun thue ich hinzu — wie ich ihn aus Schriften und Briefen kenne.

Ein immerfort wetterleuchtendes religioſes Genie — wie die Wolken- und Feuerſaͤule dem
Jſrael lichthelle Leuchte, dem Pharao Raͤderzerſchmetterndes Gewitter war — ſo dieſer Pro-
phet den Seinigen; den nicht Seinen — Thor und Verwirrer. Und doch iſt keines von die-
ſen beyden auf dieſem Bilde leicht ſichtbar — nicht der Prophet; nicht der wirrende Schwaͤr-
mer! Und wer ihn kennt, findet — Lichthelle in ſeinem Blicke, und die leutſeligſte Popularitaͤt in
ſeinem Umgange.

Was aber beyde, was alle, Freunde, Feinde, nahe, ferne zugeben muͤſſen, und zuge-
ben — iſt, daß der Mann Mann und ein Stern der erſten Groͤße iſt, wenigſtens in der religios-
poetiſchen — und litterariſch theologiſchen Welt.

Nun darf man ſich den, itzt ſchon ſehr vortheilhaften und Bedeutungsvollen Umriß der Stirne
nur kaum merkbar reiner, ſchaͤrfer, angezogner denken, doch ſo, daß der Umriß nicht hart werde —

ſo
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0422" n="262"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">X.</hi> <hi rendition="#g">Ab&#x017F;chnitt.</hi> <hi rendition="#aq">IX.</hi> <hi rendition="#g">Fragment.</hi> </hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Neuntes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Ein ma&#x0364;nnliches Profil.</hi> <hi rendition="#aq">H.</hi></hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">R</hi>icht Lob &#x2014; wie er&#x2019;s verdient; nicht Tadel .. wie man wu&#x0364;n&#x017F;chen mo&#x0364;chte &#x2014; nur einige<lb/>
wenige Zu&#x0364;ge des unerfor&#x017F;chlich großen, und uner&#x017F;cho&#x0364;pflich reichen Charakters will ich andeuten.</p><lb/>
          <p>Wenn ich nichts von dem Urbilde wu&#x0364;ßte, &#x017F;o wu&#x0364;rd&#x2019; ich u&#x0364;ber dieß Bild &#x017F;agen:</p><lb/>
          <p>Ein a&#x0364;ußer&#x017F;t fein&#x017F;ichtiger, durchdringender, vielfa&#x017F;&#x017F;ender, ma&#x0364;chtigdenkender Kopf, der be-<lb/>
&#x017F;onders alles Schwache, La&#x0364;cherliche, Fehlerhafte der Men&#x017F;chheit durch und durch &#x017F;chaut &#x2014; u&#x0364;bri-<lb/>
gens gefa&#x0364;llig, heiter, Freude machend.</p><lb/>
          <p>Jn der Stirne, ha&#x0364;tt&#x2019; ich ge&#x017F;agt &#x2014; Witz in der Lage, großer Ver&#x017F;tand in der Zeichnung.</p><lb/>
          <p>Die Na&#x017F;e fein, aber nicht groß. Jm Auge die lichthelle&#x017F;te, vielfa&#x017F;&#x017F;end&#x017F;te Erkenntnißkraft.</p><lb/>
          <p>Jm Munde &#x2014; Ka&#x0364;lte, Satyre, Laune; Gefa&#x0364;lligkeit; &#x2014; Gefa&#x0364;lligkeit auch in der Wange<lb/>
und in der Backe.</p><lb/>
          <p>Sta&#x0364;rke, Muth, Ent&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit im Hal&#x017F;e.</p><lb/>
          <p>So ha&#x0364;tt&#x2019; ich von dem Bilde geurtheilt, wenn ich nichts von dem Manne wu&#x0364;ßte.</p><lb/>
          <p>Nun thue ich hinzu &#x2014; wie ich ihn aus Schriften und Briefen kenne.</p><lb/>
          <p>Ein immerfort wetterleuchtendes religio&#x017F;es Genie &#x2014; wie die Wolken- und Feuer&#x017F;a&#x0364;ule dem<lb/><hi rendition="#fr">J&#x017F;rael</hi> lichthelle Leuchte, dem <hi rendition="#fr">Pharao</hi> Ra&#x0364;derzer&#x017F;chmetterndes Gewitter war &#x2014; &#x017F;o die&#x017F;er Pro-<lb/>
phet den Seinigen; den nicht Seinen &#x2014; Thor und Verwirrer. Und doch i&#x017F;t keines von die-<lb/>
&#x017F;en beyden auf <hi rendition="#fr">die&#x017F;em</hi> Bilde leicht &#x017F;ichtbar &#x2014; nicht der Prophet; nicht der wirrende Schwa&#x0364;r-<lb/>
mer! Und wer ihn kennt, findet &#x2014; Lichthelle in &#x017F;einem Blicke, und die leut&#x017F;elig&#x017F;te Popularita&#x0364;t in<lb/>
&#x017F;einem Umgange.</p><lb/>
          <p>Was aber beyde, was alle, Freunde, Feinde, nahe, ferne zugeben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, und zuge-<lb/>
ben &#x2014; i&#x017F;t, daß der Mann Mann und ein Stern der er&#x017F;ten Gro&#x0364;ße i&#x017F;t, wenig&#x017F;tens in der religios-<lb/>
poeti&#x017F;chen &#x2014; und litterari&#x017F;ch theologi&#x017F;chen Welt.</p><lb/>
          <p>Nun darf man &#x017F;ich den, itzt &#x017F;chon &#x017F;ehr vortheilhaften und Bedeutungsvollen Umriß der Stirne<lb/>
nur kaum merkbar reiner, &#x017F;cha&#x0364;rfer, angezogner denken, doch &#x017F;o, daß der Umriß nicht hart werde &#x2014;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;o</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[262/0422] X. Abſchnitt. IX. Fragment. Neuntes Fragment. Ein maͤnnliches Profil. H. Richt Lob — wie er’s verdient; nicht Tadel .. wie man wuͤnſchen moͤchte — nur einige wenige Zuͤge des unerforſchlich großen, und unerſchoͤpflich reichen Charakters will ich andeuten. Wenn ich nichts von dem Urbilde wuͤßte, ſo wuͤrd’ ich uͤber dieß Bild ſagen: Ein aͤußerſt feinſichtiger, durchdringender, vielfaſſender, maͤchtigdenkender Kopf, der be- ſonders alles Schwache, Laͤcherliche, Fehlerhafte der Menſchheit durch und durch ſchaut — uͤbri- gens gefaͤllig, heiter, Freude machend. Jn der Stirne, haͤtt’ ich geſagt — Witz in der Lage, großer Verſtand in der Zeichnung. Die Naſe fein, aber nicht groß. Jm Auge die lichthelleſte, vielfaſſendſte Erkenntnißkraft. Jm Munde — Kaͤlte, Satyre, Laune; Gefaͤlligkeit; — Gefaͤlligkeit auch in der Wange und in der Backe. Staͤrke, Muth, Entſchloſſenheit im Halſe. So haͤtt’ ich von dem Bilde geurtheilt, wenn ich nichts von dem Manne wuͤßte. Nun thue ich hinzu — wie ich ihn aus Schriften und Briefen kenne. Ein immerfort wetterleuchtendes religioſes Genie — wie die Wolken- und Feuerſaͤule dem Jſrael lichthelle Leuchte, dem Pharao Raͤderzerſchmetterndes Gewitter war — ſo dieſer Pro- phet den Seinigen; den nicht Seinen — Thor und Verwirrer. Und doch iſt keines von die- ſen beyden auf dieſem Bilde leicht ſichtbar — nicht der Prophet; nicht der wirrende Schwaͤr- mer! Und wer ihn kennt, findet — Lichthelle in ſeinem Blicke, und die leutſeligſte Popularitaͤt in ſeinem Umgange. Was aber beyde, was alle, Freunde, Feinde, nahe, ferne zugeben muͤſſen, und zuge- ben — iſt, daß der Mann Mann und ein Stern der erſten Groͤße iſt, wenigſtens in der religios- poetiſchen — und litterariſch theologiſchen Welt. Nun darf man ſich den, itzt ſchon ſehr vortheilhaften und Bedeutungsvollen Umriß der Stirne nur kaum merkbar reiner, ſchaͤrfer, angezogner denken, doch ſo, daß der Umriß nicht hart werde — ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/422
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/422>, abgerufen am 17.11.2024.