Welcher sanfte Friede! welche tiefe, unerschütterte Ruhe! welche gehaltene, geräuschlosdrin- gende Kraft -- umschwebt dieß Gesicht!
Sieh in ihm den stillen, in sich verschlingenden, verharrenden, ordnenden, leicht und sanft darstellenden Hörer und Beobachter! den Mann, der mit leichtem und treffendem Blicke moralische Welten ausspäht, und aus tausend sich kreuzenden Scenen ein lebendiges Thatengemählde herauf- bringt -- dessen, was ist, und dessen, was seyn sollte.
So ein Gesicht mußt' es seyn, um den metaphysisch moralischen Roman, Sophiens Rei- sen, zu stellen; dieses verschlungene Detail von Charaktern und Thaten; das unsichtbare Band, an dem sie sich abwinden, und die aus jeder Thatenspitze sich auf dringende, durchgeführte, etwa auch durchgepredigte Moral.
Jch schaue den Geist, der diese Gestalt belebt. Mann, -- nicht Schöpfer neuer Welten; nicht Zerstörer -- nicht rufend dem, das nicht ist, als ob's sey! Aber Weltenschauer, Ordner, Verschönerer. --
Jst's nicht ein Gesicht, bey dem du gerne verweilest? bey dem dir's frey und froh ist? das du gerne sprechen hörest? Nicht allgewaltig reißt es dich zu sich -- aber still und freundlich zieht es dich an; "Que pour ne point souhaiter, wie er aus der Sevigne' anführt, que pour ne point "souhaiter son amitie, il n'y a point d'autre invention, que de ne l'avoir jamais vu." Ein Gesicht; es wird nicht auf Flügeln des Adlers mit dir zur Mittagssonne sich schwingen; nicht in der Hölle Tiefen dich hinunterschleudern -- aber tausend von dir übersehene Nüancen mensch- licher Worte und Thaten wird's dir aufdecken; tausend liebliche Scenen des Lebens dir entfalten; erprobten Rath dir geben; und dein verwundetes Herz mit Oel des Trostes salben.
Sieh! im Drange des Lebens lernt er dulden und schweigen. Schweigend harret er auf den Erlöser. Wenn der Mond sein wehmüthig süßes Licht herabsendet, glänzt im Auge die Zähre, lispelt der Mund: "Jch rufte meinen Freunden; aber -- die Priester und Leviten" -- dem Fein- de zerschmettert er nicht die Zähne, aber sammelt glühende Kohlen auf sein Haupt.
Jn
IX. Abſchnitt. IV. Fragment.
Viertes Fragment. Ein Profil-Portraͤt. Hermes.
Welcher ſanfte Friede! welche tiefe, unerſchuͤtterte Ruhe! welche gehaltene, geraͤuſchlosdrin- gende Kraft — umſchwebt dieß Geſicht!
Sieh in ihm den ſtillen, in ſich verſchlingenden, verharrenden, ordnenden, leicht und ſanft darſtellenden Hoͤrer und Beobachter! den Mann, der mit leichtem und treffendem Blicke moraliſche Welten ausſpaͤht, und aus tauſend ſich kreuzenden Scenen ein lebendiges Thatengemaͤhlde herauf- bringt — deſſen, was iſt, und deſſen, was ſeyn ſollte.
So ein Geſicht mußt’ es ſeyn, um den metaphyſiſch moraliſchen Roman, Sophiens Rei- ſen, zu ſtellen; dieſes verſchlungene Detail von Charaktern und Thaten; das unſichtbare Band, an dem ſie ſich abwinden, und die aus jeder Thatenſpitze ſich auf dringende, durchgefuͤhrte, etwa auch durchgepredigte Moral.
Jch ſchaue den Geiſt, der dieſe Geſtalt belebt. Mann, — nicht Schoͤpfer neuer Welten; nicht Zerſtoͤrer — nicht rufend dem, das nicht iſt, als ob’s ſey! Aber Weltenſchauer, Ordner, Verſchoͤnerer. —
Jſt’s nicht ein Geſicht, bey dem du gerne verweileſt? bey dem dir’s frey und froh iſt? das du gerne ſprechen hoͤreſt? Nicht allgewaltig reißt es dich zu ſich — aber ſtill und freundlich zieht es dich an; „Que pour ne point ſouhaiter, wie er aus der Sevigne’ anfuͤhrt, que pour ne point „ſouhaiter ſon amitié, il n’y a point d’autre invention, que de ne l’avoir jamais vu.“ Ein Geſicht; es wird nicht auf Fluͤgeln des Adlers mit dir zur Mittagsſonne ſich ſchwingen; nicht in der Hoͤlle Tiefen dich hinunterſchleudern — aber tauſend von dir uͤberſehene Nuͤançen menſch- licher Worte und Thaten wird’s dir aufdecken; tauſend liebliche Scenen des Lebens dir entfalten; erprobten Rath dir geben; und dein verwundetes Herz mit Oel des Troſtes ſalben.
Sieh! im Drange des Lebens lernt er dulden und ſchweigen. Schweigend harret er auf den Erloͤſer. Wenn der Mond ſein wehmuͤthig ſuͤßes Licht herabſendet, glaͤnzt im Auge die Zaͤhre, liſpelt der Mund: „Jch rufte meinen Freunden; aber — die Prieſter und Leviten“ — dem Fein- de zerſchmettert er nicht die Zaͤhne, aber ſammelt gluͤhende Kohlen auf ſein Haupt.
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IX. Abſchnitt. IV. Fragment.
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Welcher ſanfte Friede! welche tiefe, unerſchuͤtterte Ruhe! welche gehaltene, geraͤuſchlosdrin-
gende Kraft — umſchwebt dieß Geſicht!
Sieh in ihm den ſtillen, in ſich verſchlingenden, verharrenden, ordnenden, leicht und ſanft
darſtellenden Hoͤrer und Beobachter! den Mann, der mit leichtem und treffendem Blicke moraliſche
Welten ausſpaͤht, und aus tauſend ſich kreuzenden Scenen ein lebendiges Thatengemaͤhlde herauf-
bringt — deſſen, was iſt, und deſſen, was ſeyn ſollte.
So ein Geſicht mußt’ es ſeyn, um den metaphyſiſch moraliſchen Roman, Sophiens Rei-
ſen, zu ſtellen; dieſes verſchlungene Detail von Charaktern und Thaten; das unſichtbare Band,
an dem ſie ſich abwinden, und die aus jeder Thatenſpitze ſich auf dringende, durchgefuͤhrte, etwa
auch durchgepredigte Moral.
Jch ſchaue den Geiſt, der dieſe Geſtalt belebt. Mann, — nicht Schoͤpfer neuer Welten;
nicht Zerſtoͤrer — nicht rufend dem, das nicht iſt, als ob’s ſey! Aber Weltenſchauer, Ordner,
Verſchoͤnerer. —
Jſt’s nicht ein Geſicht, bey dem du gerne verweileſt? bey dem dir’s frey und froh iſt? das
du gerne ſprechen hoͤreſt? Nicht allgewaltig reißt es dich zu ſich — aber ſtill und freundlich zieht es
dich an; „Que pour ne point ſouhaiter, wie er aus der Sevigne’ anfuͤhrt, que pour ne point
„ſouhaiter ſon amitié, il n’y a point d’autre invention, que de ne l’avoir jamais vu.“
Ein Geſicht; es wird nicht auf Fluͤgeln des Adlers mit dir zur Mittagsſonne ſich ſchwingen; nicht
in der Hoͤlle Tiefen dich hinunterſchleudern — aber tauſend von dir uͤberſehene Nuͤançen menſch-
licher Worte und Thaten wird’s dir aufdecken; tauſend liebliche Scenen des Lebens dir entfalten;
erprobten Rath dir geben; und dein verwundetes Herz mit Oel des Troſtes ſalben.
Sieh! im Drange des Lebens lernt er dulden und ſchweigen. Schweigend harret er auf
den Erloͤſer. Wenn der Mond ſein wehmuͤthig ſuͤßes Licht herabſendet, glaͤnzt im Auge die Zaͤhre,
liſpelt der Mund: „Jch rufte meinen Freunden; aber — die Prieſter und Leviten“ — dem Fein-
de zerſchmettert er nicht die Zaͤhne, aber ſammelt gluͤhende Kohlen auf ſein Haupt.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/352>, abgerufen am 03.03.2025.
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