Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
Erstes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen.

Der Dichter ist Mahler und Musiker zugleich, und mehr als beyde zusammen.

Unzählige Wesen und Geistigkeiten kann kein Mahler nachfärben, oder nachzeichnen --
kein Musiker nachtönen -- die der Dichter aus Seele in Seele geben kann.

Schall des Dichters ist Musik in Prosa.

Gedanke des Mahlers ist Dichterey im Geiste.

Wer ist Dichter? der Versebilder? Wortfärber? Teppichen gleich Gedankenausspan-
ner? Bildergeber? -- Bardenphraseologe? -- aber, siehe! das Bild, das er hertönt, hat we-
der Materie noch Form -- weder Knochen noch Fleisch; weder Farbe noch Seele -- und wenn
Geistigkeit keinen Körper bekömmt, nicht Unsichtbarkeit sichtbar wird -- wo dann die Dichtung? --
da, wo die Mahlerey ist, wenn der Mahler statt farbiger Gestalten den willkührlichen Namen
hinsetzt -- doch, welcher Mahler ist unsinnig genug, das zu thun, und dieß Geschäffte Mahlerey
zu nennen -- und doch wie viel hochberühmte Dichter, und Dichter mit ächter Dichtungskraft
thun das! "daß Anfang und Vollendung hebt den donnernden Fuß!" das heißt: Fürs Ohr --
blitzen?
fürs Auge -- donnern? Sind das Dichter? welchen Namen wollen wir ihnen ge-
ben? Namen müssen sie doch haben. Prosaisten und flache Köpfe sind's gewiß nicht -- Nun! mit
dem Namen sey's noch dahin gestellt -- Es ist doch wenigstens ein Talent -- Göttersprache zu
sprechen
.. Aber -- Dichter? ..

Wer ist Dichter? .. Ein Geist, der fühlt, daß er schaffen kann, und der schafft -- und
dessen Schöpfung nicht nur ihm selbst innig, als sein Werk gefällt, sondern von dessen Schöpfung
alle Zungen bekennen müssen -- "Wahrheit! Wahrheit! Natur! Natur! wir sehen, was wir
"nie sahen, und hören, was wir nie hörten -- und doch was wir sehen und hören, ist Fleisch von
"unserm Fleisch, und Gebein von unserm Gebeine." --

Nicht beleidigen will ich, aber -- wie kann ich unbeleidigend fragen: Wo sind Dichter?
Dichter -- die ihrer eignen Seele Schöpfungen, oder vielmehr das, was sie mit Liebe sahen
und hörten und nur das, und das rein und ganz -- herausblitzten, herausleuchteten, ström-

ten,
C c 3
Erſtes Fragment.
Allgemeine Betrachtungen.

Der Dichter iſt Mahler und Muſiker zugleich, und mehr als beyde zuſammen.

Unzaͤhlige Weſen und Geiſtigkeiten kann kein Mahler nachfaͤrben, oder nachzeichnen —
kein Muſiker nachtoͤnen — die der Dichter aus Seele in Seele geben kann.

Schall des Dichters iſt Muſik in Proſa.

Gedanke des Mahlers iſt Dichterey im Geiſte.

Wer iſt Dichter? der Verſebilder? Wortfaͤrber? Teppichen gleich Gedankenausſpan-
ner? Bildergeber? — Bardenphraſeologe? — aber, ſiehe! das Bild, das er hertoͤnt, hat we-
der Materie noch Form — weder Knochen noch Fleiſch; weder Farbe noch Seele — und wenn
Geiſtigkeit keinen Koͤrper bekoͤmmt, nicht Unſichtbarkeit ſichtbar wird — wo dann die Dichtung? —
da, wo die Mahlerey iſt, wenn der Mahler ſtatt farbiger Geſtalten den willkuͤhrlichen Namen
hinſetzt — doch, welcher Mahler iſt unſinnig genug, das zu thun, und dieß Geſchaͤffte Mahlerey
zu nennen — und doch wie viel hochberuͤhmte Dichter, und Dichter mit aͤchter Dichtungskraft
thun das! „daß Anfang und Vollendung hebt den donnernden Fuß!“ das heißt: Fuͤrs Ohr —
blitzen?
fuͤrs Auge — donnern? Sind das Dichter? welchen Namen wollen wir ihnen ge-
ben? Namen muͤſſen ſie doch haben. Proſaiſten und flache Koͤpfe ſind’s gewiß nicht — Nun! mit
dem Namen ſey’s noch dahin geſtellt — Es iſt doch wenigſtens ein Talent — Goͤtterſprache zu
ſprechen
.. Aber — Dichter? ..

Wer iſt Dichter? .. Ein Geiſt, der fuͤhlt, daß er ſchaffen kann, und der ſchafft — und
deſſen Schoͤpfung nicht nur ihm ſelbſt innig, als ſein Werk gefaͤllt, ſondern von deſſen Schoͤpfung
alle Zungen bekennen muͤſſen — „Wahrheit! Wahrheit! Natur! Natur! wir ſehen, was wir
„nie ſahen, und hoͤren, was wir nie hoͤrten — und doch was wir ſehen und hoͤren, iſt Fleiſch von
„unſerm Fleiſch, und Gebein von unſerm Gebeine.“ —

Nicht beleidigen will ich, aber — wie kann ich unbeleidigend fragen: Wo ſind Dichter?
Dichter — die ihrer eignen Seele Schoͤpfungen, oder vielmehr das, was ſie mit Liebe ſahen
und hoͤrten und nur das, und das rein und ganz — herausblitzten, herausleuchteten, ſtroͤm-

ten,
C c 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0341" n="205"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Er&#x017F;tes Fragment.<lb/><hi rendition="#g">Allgemeine Betrachtungen</hi>.</hi> </head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">D</hi>er <hi rendition="#fr">Dichter</hi> i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Mahler</hi> und <hi rendition="#fr">Mu&#x017F;iker</hi> zugleich, und mehr als beyde zu&#x017F;ammen.</p><lb/>
          <p>Unza&#x0364;hlige We&#x017F;en und Gei&#x017F;tigkeiten kann kein Mahler nachfa&#x0364;rben, oder nachzeichnen &#x2014;<lb/>
kein Mu&#x017F;iker nachto&#x0364;nen &#x2014; die der Dichter aus Seele in Seele geben kann.</p><lb/>
          <p>Schall des Dichters i&#x017F;t Mu&#x017F;ik in Pro&#x017F;a.</p><lb/>
          <p>Gedanke des Mahlers i&#x017F;t Dichterey im Gei&#x017F;te.</p><lb/>
          <p>Wer i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Dichter?</hi> der Ver&#x017F;ebilder? Wortfa&#x0364;rber? Teppichen gleich Gedankenaus&#x017F;pan-<lb/>
ner? Bildergeber? &#x2014; Bardenphra&#x017F;eologe? &#x2014; aber, &#x017F;iehe! das Bild, das er herto&#x0364;nt, hat we-<lb/>
der Materie noch Form &#x2014; weder Knochen noch Flei&#x017F;ch; weder Farbe noch Seele &#x2014; und wenn<lb/>
Gei&#x017F;tigkeit keinen Ko&#x0364;rper beko&#x0364;mmt, nicht Un&#x017F;ichtbarkeit &#x017F;ichtbar wird &#x2014; wo dann die Dichtung? &#x2014;<lb/>
da, wo die <hi rendition="#fr">Mahlerey</hi> i&#x017F;t, wenn der Mahler &#x017F;tatt <hi rendition="#fr">farbiger Ge&#x017F;talten</hi> den <hi rendition="#fr">willku&#x0364;hrlichen Namen</hi><lb/>
hin&#x017F;etzt &#x2014; doch, welcher Mahler i&#x017F;t un&#x017F;innig genug, das zu thun, und dieß Ge&#x017F;cha&#x0364;ffte <hi rendition="#fr">Mahlerey</hi><lb/>
zu nennen &#x2014; und doch wie viel hochberu&#x0364;hmte Dichter, und Dichter mit a&#x0364;chter Dichtungskraft<lb/>
thun das! &#x201E;daß Anfang und Vollendung hebt den donnernden Fuß!&#x201C; das heißt: Fu&#x0364;rs <hi rendition="#fr">Ohr &#x2014;<lb/>
blitzen?</hi> fu&#x0364;rs <hi rendition="#fr">Auge &#x2014; donnern?</hi> Sind das <hi rendition="#fr">Dichter?</hi> welchen Namen wollen wir ihnen ge-<lb/>
ben? Namen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie doch haben. Pro&#x017F;ai&#x017F;ten und flache Ko&#x0364;pfe &#x017F;ind&#x2019;s gewiß nicht &#x2014; Nun! mit<lb/>
dem Namen &#x017F;ey&#x2019;s noch dahin ge&#x017F;tellt &#x2014; Es i&#x017F;t doch wenig&#x017F;tens ein <hi rendition="#fr">Talent &#x2014; Go&#x0364;tter&#x017F;prache zu<lb/>
&#x017F;prechen</hi> .. Aber &#x2014; <hi rendition="#fr">Dichter?</hi> ..</p><lb/>
          <p>Wer i&#x017F;t <hi rendition="#fr">Dichter?</hi> .. Ein Gei&#x017F;t, der fu&#x0364;hlt, daß er &#x017F;chaffen kann, und der &#x017F;chafft &#x2014; und<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Scho&#x0364;pfung nicht nur ihm &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#fr">innig,</hi> als <hi rendition="#fr">&#x017F;ein Werk</hi> gefa&#x0364;llt, &#x017F;ondern von de&#x017F;&#x017F;en Scho&#x0364;pfung<lb/><hi rendition="#fr">alle Zungen</hi> bekennen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x2014; &#x201E;Wahrheit! Wahrheit! Natur! Natur! wir &#x017F;ehen, was wir<lb/>
&#x201E;nie &#x017F;ahen, und ho&#x0364;ren, was wir nie ho&#x0364;rten &#x2014; und doch was wir &#x017F;ehen und ho&#x0364;ren, i&#x017F;t Flei&#x017F;ch von<lb/>
&#x201E;un&#x017F;erm Flei&#x017F;ch, und Gebein von un&#x017F;erm Gebeine.&#x201C; &#x2014;</p><lb/>
          <p>Nicht beleidigen will ich, aber &#x2014; wie kann ich unbeleidigend fragen: <hi rendition="#fr">Wo &#x017F;ind Dichter?</hi><lb/>
Dichter &#x2014; die ihrer eignen Seele Scho&#x0364;pfungen, oder vielmehr das, was &#x017F;ie mit <hi rendition="#fr">Liebe &#x017F;ahen</hi><lb/>
und <hi rendition="#fr">ho&#x0364;rten</hi> und <hi rendition="#fr">nur</hi> das, und das <hi rendition="#fr">rein</hi> und <hi rendition="#fr">ganz</hi> &#x2014; herausblitzten, herausleuchteten, &#x017F;tro&#x0364;m-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">C c 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ten,</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0341] Erſtes Fragment. Allgemeine Betrachtungen. Der Dichter iſt Mahler und Muſiker zugleich, und mehr als beyde zuſammen. Unzaͤhlige Weſen und Geiſtigkeiten kann kein Mahler nachfaͤrben, oder nachzeichnen — kein Muſiker nachtoͤnen — die der Dichter aus Seele in Seele geben kann. Schall des Dichters iſt Muſik in Proſa. Gedanke des Mahlers iſt Dichterey im Geiſte. Wer iſt Dichter? der Verſebilder? Wortfaͤrber? Teppichen gleich Gedankenausſpan- ner? Bildergeber? — Bardenphraſeologe? — aber, ſiehe! das Bild, das er hertoͤnt, hat we- der Materie noch Form — weder Knochen noch Fleiſch; weder Farbe noch Seele — und wenn Geiſtigkeit keinen Koͤrper bekoͤmmt, nicht Unſichtbarkeit ſichtbar wird — wo dann die Dichtung? — da, wo die Mahlerey iſt, wenn der Mahler ſtatt farbiger Geſtalten den willkuͤhrlichen Namen hinſetzt — doch, welcher Mahler iſt unſinnig genug, das zu thun, und dieß Geſchaͤffte Mahlerey zu nennen — und doch wie viel hochberuͤhmte Dichter, und Dichter mit aͤchter Dichtungskraft thun das! „daß Anfang und Vollendung hebt den donnernden Fuß!“ das heißt: Fuͤrs Ohr — blitzen? fuͤrs Auge — donnern? Sind das Dichter? welchen Namen wollen wir ihnen ge- ben? Namen muͤſſen ſie doch haben. Proſaiſten und flache Koͤpfe ſind’s gewiß nicht — Nun! mit dem Namen ſey’s noch dahin geſtellt — Es iſt doch wenigſtens ein Talent — Goͤtterſprache zu ſprechen .. Aber — Dichter? .. Wer iſt Dichter? .. Ein Geiſt, der fuͤhlt, daß er ſchaffen kann, und der ſchafft — und deſſen Schoͤpfung nicht nur ihm ſelbſt innig, als ſein Werk gefaͤllt, ſondern von deſſen Schoͤpfung alle Zungen bekennen muͤſſen — „Wahrheit! Wahrheit! Natur! Natur! wir ſehen, was wir „nie ſahen, und hoͤren, was wir nie hoͤrten — und doch was wir ſehen und hoͤren, iſt Fleiſch von „unſerm Fleiſch, und Gebein von unſerm Gebeine.“ — Nicht beleidigen will ich, aber — wie kann ich unbeleidigend fragen: Wo ſind Dichter? Dichter — die ihrer eignen Seele Schoͤpfungen, oder vielmehr das, was ſie mit Liebe ſahen und hoͤrten und nur das, und das rein und ganz — herausblitzten, herausleuchteten, ſtroͤm- ten, C c 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/341
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/341>, abgerufen am 17.11.2024.