Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
Rücksicht.

Jch glaube nicht, daß man mir vorwerfen werde, Künstler ausgesucht zu haben. Jch glaube
aber, sehende Leser werden sattsam überzeugt seyn, daß die Kunst ihre Kennzeichen am menschlichen
Gesichte hat, so gut als Weisheit und Thorheit.

Jch habe schon gesagt: die Werke der Künstler sind wie ihre Physiognomien. Jch
wag' es, noch eine nähere Bestimmung beyzufügen. Die Umrisse ihrer Arbeiten sind gemei-
niglich wie die Umrisse ihrer Gesichter;
oder noch näher, wie die Umrisse ihrer Stirnen und
Nasen -- locker, wenn diese locker, und scharf, wenn diese scharf sind; bestimmt, wenn diese bestimmt,
unbestimmt, wenn diese unbestimmt sind. Denn wie ihre Physiognomie ist, so ist ihr Gefühl,
so ihre Liebe.
Der hartgezeichnete liebt das hartgezeichnete; der weichumrissene die weichern Um-
risse -- warum? der hartgezeichnete hat mehr Sinn, Auge, Gefühl für das, was ihm ähnlich ist.
So der weichergebildete.

Noch verdient angemerkt zu werden, daß die meisten großen Bildhauer fette Köpfe, wei-
che fleischige Kinne haben.

Hier zum Beschlusse noch ein vergröbertes Bild einer schweizerischen zu ihrer Zeit berühm-
ten Miniaturmahlerinn -- Anna Waser. Das Aug ist zu lang. Der Mund zu unbestimmt, den-
noch ist eine Großheit im Ganzen, welche in den besten ihrer Arbeiten auch nicht zu verkennen ist.

[Abbildung]

Des
Ruͤckſicht.

Jch glaube nicht, daß man mir vorwerfen werde, Kuͤnſtler ausgeſucht zu haben. Jch glaube
aber, ſehende Leſer werden ſattſam uͤberzeugt ſeyn, daß die Kunſt ihre Kennzeichen am menſchlichen
Geſichte hat, ſo gut als Weisheit und Thorheit.

Jch habe ſchon geſagt: die Werke der Kuͤnſtler ſind wie ihre Phyſiognomien. Jch
wag’ es, noch eine naͤhere Beſtimmung beyzufuͤgen. Die Umriſſe ihrer Arbeiten ſind gemei-
niglich wie die Umriſſe ihrer Geſichter;
oder noch naͤher, wie die Umriſſe ihrer Stirnen und
Naſen — locker, wenn dieſe locker, und ſcharf, wenn dieſe ſcharf ſind; beſtimmt, wenn dieſe beſtimmt,
unbeſtimmt, wenn dieſe unbeſtimmt ſind. Denn wie ihre Phyſiognomie iſt, ſo iſt ihr Gefuͤhl,
ſo ihre Liebe.
Der hartgezeichnete liebt das hartgezeichnete; der weichumriſſene die weichern Um-
riſſe — warum? der hartgezeichnete hat mehr Sinn, Auge, Gefuͤhl fuͤr das, was ihm aͤhnlich iſt.
So der weichergebildete.

Noch verdient angemerkt zu werden, daß die meiſten großen Bildhauer fette Koͤpfe, wei-
che fleiſchige Kinne haben.

Hier zum Beſchluſſe noch ein vergroͤbertes Bild einer ſchweizeriſchen zu ihrer Zeit beruͤhm-
ten Miniaturmahlerinn — Anna Waſer. Das Aug iſt zu lang. Der Mund zu unbeſtimmt, den-
noch iſt eine Großheit im Ganzen, welche in den beſten ihrer Arbeiten auch nicht zu verkennen iſt.

[Abbildung]

Des
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0320" n="192"/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Ru&#x0364;ck&#x017F;icht.</hi> </hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">J</hi>ch glaube nicht, daß man mir vorwerfen werde, Ku&#x0364;n&#x017F;tler ausge&#x017F;ucht zu haben. Jch glaube<lb/>
aber, &#x017F;ehende Le&#x017F;er werden &#x017F;att&#x017F;am u&#x0364;berzeugt &#x017F;eyn, daß die Kun&#x017F;t ihre Kennzeichen am men&#x017F;chlichen<lb/>
Ge&#x017F;ichte hat, &#x017F;o gut als Weisheit und Thorheit.</p><lb/>
            <p>Jch habe &#x017F;chon ge&#x017F;agt: <hi rendition="#fr">die Werke der Ku&#x0364;n&#x017F;tler &#x017F;ind wie ihre Phy&#x017F;iognomien.</hi> Jch<lb/>
wag&#x2019; es, noch eine na&#x0364;here Be&#x017F;timmung beyzufu&#x0364;gen. <hi rendition="#fr">Die Umri&#x017F;&#x017F;e ihrer Arbeiten &#x017F;ind gemei-<lb/>
niglich wie die Umri&#x017F;&#x017F;e ihrer Ge&#x017F;ichter;</hi> oder noch na&#x0364;her, wie die Umri&#x017F;&#x017F;e ihrer Stirnen und<lb/>
Na&#x017F;en &#x2014; locker, wenn die&#x017F;e locker, und &#x017F;charf, wenn die&#x017F;e &#x017F;charf &#x017F;ind; be&#x017F;timmt, wenn die&#x017F;e be&#x017F;timmt,<lb/>
unbe&#x017F;timmt, wenn die&#x017F;e unbe&#x017F;timmt &#x017F;ind. Denn <hi rendition="#fr">wie ihre Phy&#x017F;iognomie i&#x017F;t, &#x017F;o i&#x017F;t ihr Gefu&#x0364;hl,<lb/>
&#x017F;o ihre Liebe.</hi> Der hartgezeichnete liebt das hartgezeichnete; der weichumri&#x017F;&#x017F;ene die weichern Um-<lb/>
ri&#x017F;&#x017F;e &#x2014; warum? der hartgezeichnete hat mehr Sinn, Auge, Gefu&#x0364;hl fu&#x0364;r das, was ihm a&#x0364;hnlich i&#x017F;t.<lb/>
So der weichergebildete.</p><lb/>
            <p>Noch verdient angemerkt zu werden, daß die mei&#x017F;ten großen Bildhauer fette Ko&#x0364;pfe, wei-<lb/>
che flei&#x017F;chige Kinne haben.</p><lb/>
            <p>Hier zum Be&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e noch ein vergro&#x0364;bertes Bild einer &#x017F;chweizeri&#x017F;chen zu ihrer Zeit beru&#x0364;hm-<lb/>
ten Miniaturmahlerinn &#x2014; <hi rendition="#fr">Anna Wa&#x017F;er.</hi> Das Aug i&#x017F;t zu lang. Der Mund zu unbe&#x017F;timmt, den-<lb/>
noch i&#x017F;t eine Großheit im Ganzen, welche in den be&#x017F;ten ihrer Arbeiten auch nicht zu verkennen i&#x017F;t.</p><lb/>
            <figure/>
          </div>
        </div>
      </div>
      <fw place="bottom" type="catch"> <hi rendition="#b">Des</hi> </fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0320] Ruͤckſicht. Jch glaube nicht, daß man mir vorwerfen werde, Kuͤnſtler ausgeſucht zu haben. Jch glaube aber, ſehende Leſer werden ſattſam uͤberzeugt ſeyn, daß die Kunſt ihre Kennzeichen am menſchlichen Geſichte hat, ſo gut als Weisheit und Thorheit. Jch habe ſchon geſagt: die Werke der Kuͤnſtler ſind wie ihre Phyſiognomien. Jch wag’ es, noch eine naͤhere Beſtimmung beyzufuͤgen. Die Umriſſe ihrer Arbeiten ſind gemei- niglich wie die Umriſſe ihrer Geſichter; oder noch naͤher, wie die Umriſſe ihrer Stirnen und Naſen — locker, wenn dieſe locker, und ſcharf, wenn dieſe ſcharf ſind; beſtimmt, wenn dieſe beſtimmt, unbeſtimmt, wenn dieſe unbeſtimmt ſind. Denn wie ihre Phyſiognomie iſt, ſo iſt ihr Gefuͤhl, ſo ihre Liebe. Der hartgezeichnete liebt das hartgezeichnete; der weichumriſſene die weichern Um- riſſe — warum? der hartgezeichnete hat mehr Sinn, Auge, Gefuͤhl fuͤr das, was ihm aͤhnlich iſt. So der weichergebildete. Noch verdient angemerkt zu werden, daß die meiſten großen Bildhauer fette Koͤpfe, wei- che fleiſchige Kinne haben. Hier zum Beſchluſſe noch ein vergroͤbertes Bild einer ſchweizeriſchen zu ihrer Zeit beruͤhm- ten Miniaturmahlerinn — Anna Waſer. Das Aug iſt zu lang. Der Mund zu unbeſtimmt, den- noch iſt eine Großheit im Ganzen, welche in den beſten ihrer Arbeiten auch nicht zu verkennen iſt. [Abbildung] Des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/320
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/320>, abgerufen am 17.11.2024.