Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Fragment.
erst und lange lange nur zu den einfachsten Umrissen, nur zum genauen copieren von Schattenrissen
gewöhnt, und bloß in reinen Schattenlosen Contours geübt werden.

Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut möchte mir oft zu den Fingern heraus-
spritzen, daß ich für die Charakterisirung so gar der sinnlichsten Züge, der anschaubarsten Linien --
keine Worte, darstellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern sey's, daß ich damit den
würklichen Mangel eigner Sprachfähigkeit entschuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht!
Selbst mein mit Recht getadelter Wortreichthum ist, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer
Mangel. Oft könnt' ein anderer, der der Sprache mächtiger und gelehrter ist, gewiß mit Einem
Worte sagen, was ich nur mit vieren sagen, oder auch nicht sagen kann. Jch wünschte daher,
daß die, welche die Mühe nehmen, diese Fragmente zu beurtheilen, die Gütigkeit haben möchten,
statt aller leertönenden Wehklagen, etwa hie und da einen Versuch richtiger und kürzer zu sagen,
was ich unrichtig und weitläuftig sage, vorzulegen; mir physiognomische Wörter aus unserer und
fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir also würklich brüderlich zu helfen.

23.

XV. Fragment.

Seite 172. "Wer in seinem Leben einmal gesagt hat, oder hätte sagen können: Mir schei-
"nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterschied bemerken -- oder so was; der
"unterstehe sich nie über die Physiognomie ein Wort zu reden
" -- Diese letztern Worte
sind übereilt, zu hart, und wider die Wahrheit -- Setzet dafür: "der ist noch nicht auf dem Wege,
"ein guter Physiognomist zu werden." --

24.

Ueber die zween Köpfe von Raphael Seite 198-200. hat Göthe die meiste. Wahrheit
ausgegossen; so ist auch im XVII. Fragmente EE. Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.

25.

XVII. Fragment. T. Seite 220. Setzet anstatt des hier zweydeutigen Wortes Kraft ...
Reizbarkeit.

26. W.

I. Fragment.
erſt und lange lange nur zu den einfachſten Umriſſen, nur zum genauen copieren von Schattenriſſen
gewoͤhnt, und bloß in reinen Schattenloſen Contours geuͤbt werden.

Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut moͤchte mir oft zu den Fingern heraus-
ſpritzen, daß ich fuͤr die Charakteriſirung ſo gar der ſinnlichſten Zuͤge, der anſchaubarſten Linien —
keine Worte, darſtellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern ſey’s, daß ich damit den
wuͤrklichen Mangel eigner Sprachfaͤhigkeit entſchuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht!
Selbſt mein mit Recht getadelter Wortreichthum iſt, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer
Mangel. Oft koͤnnt’ ein anderer, der der Sprache maͤchtiger und gelehrter iſt, gewiß mit Einem
Worte ſagen, was ich nur mit vieren ſagen, oder auch nicht ſagen kann. Jch wuͤnſchte daher,
daß die, welche die Muͤhe nehmen, dieſe Fragmente zu beurtheilen, die Guͤtigkeit haben moͤchten,
ſtatt aller leertoͤnenden Wehklagen, etwa hie und da einen Verſuch richtiger und kuͤrzer zu ſagen,
was ich unrichtig und weitlaͤuftig ſage, vorzulegen; mir phyſiognomiſche Woͤrter aus unſerer und
fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir alſo wuͤrklich bruͤderlich zu helfen.

23.

XV. Fragment.

Seite 172. „Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder haͤtte ſagen koͤnnen: Mir ſchei-
„nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterſchied bemerken — oder ſo was; der
„unterſtehe ſich nie uͤber die Phyſiognomie ein Wort zu reden
“ — Dieſe letztern Worte
ſind uͤbereilt, zu hart, und wider die Wahrheit — Setzet dafuͤr: „der iſt noch nicht auf dem Wege,
„ein guter Phyſiognomiſt zu werden.“ —

24.

Ueber die zween Koͤpfe von Raphael Seite 198-200. hat Goͤthe die meiſte. Wahrheit
ausgegoſſen; ſo iſt auch im XVII. Fragmente EE. Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.

25.

XVII. Fragment. T. Seite 220. Setzet anſtatt des hier zweydeutigen Wortes Kraft ...
Reizbarkeit.

26. W.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="3">
          <p><pb facs="#f0032" n="16"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I.</hi><hi rendition="#g">Fragment.</hi></hi></fw><lb/>
er&#x017F;t und lange lange nur zu den einfach&#x017F;ten Umri&#x017F;&#x017F;en, nur zum genauen copieren von Schattenri&#x017F;&#x017F;en<lb/>
gewo&#x0364;hnt, und bloß in reinen Schattenlo&#x017F;en Contours geu&#x0364;bt werden.</p><lb/>
          <p>Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut mo&#x0364;chte mir oft zu den Fingern heraus-<lb/>
&#x017F;pritzen, daß ich fu&#x0364;r die Charakteri&#x017F;irung &#x017F;o gar der <hi rendition="#fr">&#x017F;innlich&#x017F;ten</hi> Zu&#x0364;ge, der an&#x017F;chaubar&#x017F;ten Linien &#x2014;<lb/>
keine Worte, dar&#x017F;tellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern &#x017F;ey&#x2019;s, daß ich damit den<lb/>
wu&#x0364;rklichen Mangel eigner Sprachfa&#x0364;higkeit ent&#x017F;chuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht!<lb/>
Selb&#x017F;t mein mit Recht getadelter Wortreichthum i&#x017F;t, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer<lb/>
Mangel. Oft ko&#x0364;nnt&#x2019; ein anderer, der der Sprache ma&#x0364;chtiger und gelehrter i&#x017F;t, gewiß mit Einem<lb/>
Worte &#x017F;agen, was ich nur mit vieren &#x017F;agen, oder auch nicht &#x017F;agen kann. Jch wu&#x0364;n&#x017F;chte daher,<lb/>
daß die, welche die Mu&#x0364;he nehmen, die&#x017F;e Fragmente zu beurtheilen, die Gu&#x0364;tigkeit haben mo&#x0364;chten,<lb/>
&#x017F;tatt aller leerto&#x0364;nenden Wehklagen, etwa hie und da einen Ver&#x017F;uch richtiger und ku&#x0364;rzer zu &#x017F;agen,<lb/>
was ich unrichtig und weitla&#x0364;uftig &#x017F;age, vorzulegen; mir phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Wo&#x0364;rter aus un&#x017F;erer und<lb/>
fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir al&#x017F;o wu&#x0364;rklich <hi rendition="#fr">bru&#x0364;derlich</hi> zu helfen.</p>
        </div><lb/>
        <div n="3">
          <head>23.</head><lb/>
          <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g"><hi rendition="#aq">XV.</hi> Fragment.</hi> </hi> </hi> </p><lb/>
          <p>Seite 172. &#x201E;Wer in &#x017F;einem Leben einmal ge&#x017F;agt hat, oder ha&#x0364;tte &#x017F;agen ko&#x0364;nnen: Mir &#x017F;chei-<lb/>
&#x201E;nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unter&#x017F;chied bemerken &#x2014; oder &#x017F;o was; <hi rendition="#fr">der<lb/>
&#x201E;unter&#x017F;tehe &#x017F;ich nie u&#x0364;ber die Phy&#x017F;iognomie ein Wort zu reden</hi>&#x201C; &#x2014; Die&#x017F;e letztern Worte<lb/>
&#x017F;ind u&#x0364;bereilt, zu hart, und wider die Wahrheit &#x2014; Setzet dafu&#x0364;r: &#x201E;der i&#x017F;t noch nicht auf dem Wege,<lb/>
&#x201E;ein guter Phy&#x017F;iognomi&#x017F;t zu werden.&#x201C; &#x2014;</p>
        </div><lb/>
        <div n="3">
          <head>24.</head><lb/>
          <p>Ueber die zween Ko&#x0364;pfe von <hi rendition="#fr">Raphael</hi> Seite 198-200. hat <hi rendition="#fr">Go&#x0364;the</hi> die mei&#x017F;te. Wahrheit<lb/>
ausgego&#x017F;&#x017F;en; &#x017F;o i&#x017F;t auch im <hi rendition="#aq">XVII.</hi> Fragmente <hi rendition="#aq">EE.</hi> Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm.</p>
        </div><lb/>
        <div n="3">
          <head>25.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#aq">XVII.</hi> Fragment. <hi rendition="#aq">T.</hi> Seite 220. Setzet an&#x017F;tatt des hier zweydeutigen Wortes <hi rendition="#fr">Kraft ...<lb/>
Reizbarkeit.</hi></p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">26. W.</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0032] I. Fragment. erſt und lange lange nur zu den einfachſten Umriſſen, nur zum genauen copieren von Schattenriſſen gewoͤhnt, und bloß in reinen Schattenloſen Contours geuͤbt werden. Und dann die Sprache! ach! die Sprache! Blut moͤchte mir oft zu den Fingern heraus- ſpritzen, daß ich fuͤr die Charakteriſirung ſo gar der ſinnlichſten Zuͤge, der anſchaubarſten Linien — keine Worte, darſtellende Worte finden, keine zu finden hoffen kann. Fern ſey’s, daß ich damit den wuͤrklichen Mangel eigner Sprachfaͤhigkeit entſchuldigen, oder decken wolle. Durchaus nicht! Selbſt mein mit Recht getadelter Wortreichthum iſt, wie man ebenfalls richtig bemerkt hat, wahrer Mangel. Oft koͤnnt’ ein anderer, der der Sprache maͤchtiger und gelehrter iſt, gewiß mit Einem Worte ſagen, was ich nur mit vieren ſagen, oder auch nicht ſagen kann. Jch wuͤnſchte daher, daß die, welche die Muͤhe nehmen, dieſe Fragmente zu beurtheilen, die Guͤtigkeit haben moͤchten, ſtatt aller leertoͤnenden Wehklagen, etwa hie und da einen Verſuch richtiger und kuͤrzer zu ſagen, was ich unrichtig und weitlaͤuftig ſage, vorzulegen; mir phyſiognomiſche Woͤrter aus unſerer und fremden Sprachen an die Hand zu geben, und mir alſo wuͤrklich bruͤderlich zu helfen. 23. XV. Fragment. Seite 172. „Wer in ſeinem Leben einmal geſagt hat, oder haͤtte ſagen koͤnnen: Mir ſchei- „nen alle Stirnen gleich; ich kann an den Ohren keinen Unterſchied bemerken — oder ſo was; der „unterſtehe ſich nie uͤber die Phyſiognomie ein Wort zu reden“ — Dieſe letztern Worte ſind uͤbereilt, zu hart, und wider die Wahrheit — Setzet dafuͤr: „der iſt noch nicht auf dem Wege, „ein guter Phyſiognomiſt zu werden.“ — 24. Ueber die zween Koͤpfe von Raphael Seite 198-200. hat Goͤthe die meiſte. Wahrheit ausgegoſſen; ſo iſt auch im XVII. Fragmente EE. Seite 245. 246. beynahe ganz von ihm. 25. XVII. Fragment. T. Seite 220. Setzet anſtatt des hier zweydeutigen Wortes Kraft ... Reizbarkeit. 26. W.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/32
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/32>, abgerufen am 18.12.2024.