Zehntes Fragment. Französische und englische Künstler. Zwölf Umrisse.
Freylich auch wieder nur Formen oder Karrikaturen, wenn ihr wollt, doch auch diese bloße Lar- ven -- wie ganz anders, wie viel weniger faltig, zusammengedrückt, wie viel offner, freyer, ein- facher, als die vorigen!
Wie sieht man es dieser Tafel überhaupt so leicht an, daß hier nicht der still ausharrende Nachahmungsgeist herrscht; viel weniger kleinlich ängstliches hier zum Vorschein kömmt, als auf vorhergehender Tafel. Hauptformen, einzelne Züge, Stellung sogar drücken mehr Seele, mehr Freyheit, mehr Gefühl, und mehr das Ganze umfassende Verliebtheit aus.
Nun will ich wieder alle Menschen mit Menschenaugen bitten -- diese Tafel voll Künst- ler durchzugehen, und zu urtheilen -- ob unter allen zwölfen ein einziges Alltagsgesicht sey? -- Höchstens den zweyten Kopf ausgenommen, würd' ich schon aus den bloßen Augenbraunen aller übrigen eilfe für mich mit der zuverläßigsten Ueberzeugung schließen -- "keine gemeine Men- "schen!" -- Unphysiognomische Leser werden vielleicht 1. Alltagsgesicht heißen. Warum? Es ist wenig Miene drinn, und die meisten ungelehrten Physiognomisten sehen meistens, sehen vornehm- lich nur auf die Miene. Daher so vieler Mißverstand; so viele unbeantwortlich scheinende Einwendungen gegen die Physiognomik, die so leicht zu beantworten sind -- sobald man nicht mehr allein die Miene, das heißt, den gegenwärtigen Zustand des Gesichtes, der aus Be- wegung entsteht -- in Betrachtung zieht, sondern mehr die Form des Gesichtes, in so fern man es sich ohne Bewegung denkt. So kann ich mir, wie schon angemerkt, und wie dennoch kaum genug wiederholt werden kann, die allgemeinen Urtheile über d'Alemberts, Humes, Johnsons Physiognomien ganz leicht erklären, und ich will allemal verloren haben, wenn ein würklich großer und vorzüglicher Mann nichts großes und vorzügliches hat, entweder in der Miene, oder in der Gesichtsform, d. i. im Zustande der Bewegung, oder der Ruhe. Man verzeihe, daß ich keine Gelegenheit vorbey lasse, dieß zu wiederholen und einzuschärfen. Wenn
meine
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Kuͤnſtler.
Zehntes Fragment. Franzoͤſiſche und engliſche Kuͤnſtler. Zwoͤlf Umriſſe.
Freylich auch wieder nur Formen oder Karrikaturen, wenn ihr wollt, doch auch dieſe bloße Lar- ven — wie ganz anders, wie viel weniger faltig, zuſammengedruͤckt, wie viel offner, freyer, ein- facher, als die vorigen!
Wie ſieht man es dieſer Tafel uͤberhaupt ſo leicht an, daß hier nicht der ſtill ausharrende Nachahmungsgeiſt herrſcht; viel weniger kleinlich aͤngſtliches hier zum Vorſchein koͤmmt, als auf vorhergehender Tafel. Hauptformen, einzelne Zuͤge, Stellung ſogar druͤcken mehr Seele, mehr Freyheit, mehr Gefuͤhl, und mehr das Ganze umfaſſende Verliebtheit aus.
Nun will ich wieder alle Menſchen mit Menſchenaugen bitten — dieſe Tafel voll Kuͤnſt- ler durchzugehen, und zu urtheilen — ob unter allen zwoͤlfen ein einziges Alltagsgeſicht ſey? — Hoͤchſtens den zweyten Kopf ausgenommen, wuͤrd’ ich ſchon aus den bloßen Augenbraunen aller uͤbrigen eilfe fuͤr mich mit der zuverlaͤßigſten Ueberzeugung ſchließen — „keine gemeine Men- „ſchen!“ — Unphyſiognomiſche Leſer werden vielleicht 1. Alltagsgeſicht heißen. Warum? Es iſt wenig Miene drinn, und die meiſten ungelehrten Phyſiognomiſten ſehen meiſtens, ſehen vornehm- lich nur auf die Miene. Daher ſo vieler Mißverſtand; ſo viele unbeantwortlich ſcheinende Einwendungen gegen die Phyſiognomik, die ſo leicht zu beantworten ſind — ſobald man nicht mehr allein die Miene, das heißt, den gegenwaͤrtigen Zuſtand des Geſichtes, der aus Be- wegung entſteht — in Betrachtung zieht, ſondern mehr die Form des Geſichtes, in ſo fern man es ſich ohne Bewegung denkt. So kann ich mir, wie ſchon angemerkt, und wie dennoch kaum genug wiederholt werden kann, die allgemeinen Urtheile uͤber d’Alemberts, Humes, Johnſons Phyſiognomien ganz leicht erklaͤren, und ich will allemal verloren haben, wenn ein wuͤrklich großer und vorzuͤglicher Mann nichts großes und vorzuͤgliches hat, entweder in der Miene, oder in der Geſichtsform, d. i. im Zuſtande der Bewegung, oder der Ruhe. Man verzeihe, daß ich keine Gelegenheit vorbey laſſe, dieß zu wiederholen und einzuſchaͤrfen. Wenn
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Kuͤnſtler.
Zehntes Fragment.
Franzoͤſiſche und engliſche Kuͤnſtler. Zwoͤlf Umriſſe.
Freylich auch wieder nur Formen oder Karrikaturen, wenn ihr wollt, doch auch dieſe bloße Lar-
ven — wie ganz anders, wie viel weniger faltig, zuſammengedruͤckt, wie viel offner, freyer, ein-
facher, als die vorigen!
Wie ſieht man es dieſer Tafel uͤberhaupt ſo leicht an, daß hier nicht der ſtill ausharrende
Nachahmungsgeiſt herrſcht; viel weniger kleinlich aͤngſtliches hier zum Vorſchein koͤmmt, als
auf vorhergehender Tafel. Hauptformen, einzelne Zuͤge, Stellung ſogar druͤcken mehr Seele,
mehr Freyheit, mehr Gefuͤhl, und mehr das Ganze umfaſſende Verliebtheit aus.
Nun will ich wieder alle Menſchen mit Menſchenaugen bitten — dieſe Tafel voll Kuͤnſt-
ler durchzugehen, und zu urtheilen — ob unter allen zwoͤlfen ein einziges Alltagsgeſicht ſey? —
Hoͤchſtens den zweyten Kopf ausgenommen, wuͤrd’ ich ſchon aus den bloßen Augenbraunen aller
uͤbrigen eilfe fuͤr mich mit der zuverlaͤßigſten Ueberzeugung ſchließen — „keine gemeine Men-
„ſchen!“ — Unphyſiognomiſche Leſer werden vielleicht 1. Alltagsgeſicht heißen. Warum? Es
iſt wenig Miene drinn, und die meiſten ungelehrten Phyſiognomiſten ſehen meiſtens, ſehen vornehm-
lich nur auf die Miene. Daher ſo vieler Mißverſtand; ſo viele unbeantwortlich ſcheinende
Einwendungen gegen die Phyſiognomik, die ſo leicht zu beantworten ſind — ſobald man nicht
mehr allein die Miene, das heißt, den gegenwaͤrtigen Zuſtand des Geſichtes, der aus Be-
wegung entſteht — in Betrachtung zieht, ſondern mehr die Form des Geſichtes, in ſo fern
man es ſich ohne Bewegung denkt. So kann ich mir, wie ſchon angemerkt, und wie dennoch
kaum genug wiederholt werden kann, die allgemeinen Urtheile uͤber d’Alemberts, Humes,
Johnſons Phyſiognomien ganz leicht erklaͤren, und ich will allemal verloren haben, wenn ein
wuͤrklich großer und vorzuͤglicher Mann nichts großes und vorzuͤgliches hat, entweder in der
Miene, oder in der Geſichtsform, d. i. im Zuſtande der Bewegung, oder der Ruhe. Man
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/317>, abgerufen am 03.03.2025.
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