Wenn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen könnt, das keine Physiogno- mie hat, dessen Physiognomie seinem Charakter nicht entspricht -- so soll der Mensch auch keine haben!
Was hat weniger und mehr Physiognomie, als die Schlange? Ließen sich nicht aus man- chen der Schlangenköpfe, die wir hier vor uns haben -- entscheidende Züge der Arglist und Falsch- heit -- herausheben?
Freylich nicht ein Zug von Verstand -- von überlegender Planmacherey -- nicht Ge- dächtniß, nicht Vielfassung -- sondern die allerbeschränkteste List -- und die Falschheit, wie kün- digt sie sich an in der Miene voll Verworfenheit!
Selber ihre Farbenspielung und die unerforschliche Reihung und Windung ihrer Fle- cken -- Sie scheint sich als täuschende Zauberey vor sich selber warnend anzukündigen.
Unter allen diesen siebenzehn Köpfen von größtentheils amerikanischen Schlangen -- nicht Einer, den man lieb gewinnen, der Vertrauen erwerben könnte -- und man idealisire sich diese Gesichter zu Menschengesichtern -- wie werden wir zurück beben!
Freylich die listigsten Menschen haben größtentheils tiefliegende Augen -- die meisten dieser Schlangen vorausstehende -- das kündigt Bosheit und Falschheit der List an. --
Das Maul ist so gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeschnitten -- Jch mache keine Anwendung davon; sie macht sich selber.
Alle wahrhaft kräftige Menschen sind gerade redliche Menschen. List ist Ersatz der Kraft. Kraft, (wir reden nicht von der Kraft ihrer festen Umschlingung) Kraft, ohne List, gerade vor sich hin zu würken -- mangelt allen. Sie sind gebildet -- "in die Fersen zu stechen -- und zertreten "zu werden." --
Das Urtheil Gottes ist ihnen auf die platte kraftlose Stirne geschrieben; ist in ihrem Munde und Auge zu lesen. --
Und so das Urtheil Gottes über dich und mich -- ob's gleich wenigen offenbar ist.
Sechstes
Fuͤnftes Fragment. Schlangenkoͤpfe.
Wenn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen koͤnnt, das keine Phyſiogno- mie hat, deſſen Phyſiognomie ſeinem Charakter nicht entſpricht — ſo ſoll der Menſch auch keine haben!
Was hat weniger und mehr Phyſiognomie, als die Schlange? Ließen ſich nicht aus man- chen der Schlangenkoͤpfe, die wir hier vor uns haben — entſcheidende Zuͤge der Argliſt und Falſch- heit — herausheben?
Freylich nicht ein Zug von Verſtand — von uͤberlegender Planmacherey — nicht Ge- daͤchtniß, nicht Vielfaſſung — ſondern die allerbeſchraͤnkteſte Liſt — und die Falſchheit, wie kuͤn- digt ſie ſich an in der Miene voll Verworfenheit!
Selber ihre Farbenſpielung und die unerforſchliche Reihung und Windung ihrer Fle- cken — Sie ſcheint ſich als taͤuſchende Zauberey vor ſich ſelber warnend anzukuͤndigen.
Unter allen dieſen ſiebenzehn Koͤpfen von groͤßtentheils amerikaniſchen Schlangen — nicht Einer, den man lieb gewinnen, der Vertrauen erwerben koͤnnte — und man idealiſire ſich dieſe Geſichter zu Menſchengeſichtern — wie werden wir zuruͤck beben!
Freylich die liſtigſten Menſchen haben groͤßtentheils tiefliegende Augen — die meiſten dieſer Schlangen vorausſtehende — das kuͤndigt Bosheit und Falſchheit der Liſt an. —
Das Maul iſt ſo gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeſchnitten — Jch mache keine Anwendung davon; ſie macht ſich ſelber.
Alle wahrhaft kraͤftige Menſchen ſind gerade redliche Menſchen. Liſt iſt Erſatz der Kraft. Kraft, (wir reden nicht von der Kraft ihrer feſten Umſchlingung) Kraft, ohne Liſt, gerade vor ſich hin zu wuͤrken — mangelt allen. Sie ſind gebildet — „in die Ferſen zu ſtechen — und zertreten „zu werden.“ —
Das Urtheil Gottes iſt ihnen auf die platte kraftloſe Stirne geſchrieben; iſt in ihrem Munde und Auge zu leſen. —
Und ſo das Urtheil Gottes uͤber dich und mich — ob’s gleich wenigen offenbar iſt.
Sechstes
<TEI><text><body><divn="1"><pbn="80"facs="#f0124"/><divn="2"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Fuͤnftes Fragment.<lb/>
Schlangenkoͤpfe.</hi></hi></head><lb/><noteplace="left">Des <hirendition="#aq">III.</hi> Ban-<lb/>
des <hirendition="#aq">XV.</hi> Tafel.</note><p><hirendition="#in">W</hi>enn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen koͤnnt, das keine Phyſiogno-<lb/>
mie hat, deſſen Phyſiognomie ſeinem Charakter nicht entſpricht —ſo ſoll der Menſch<lb/>
auch keine haben!</p><lb/><p>Was hat weniger und mehr Phyſiognomie, als die Schlange? Ließen ſich nicht aus man-<lb/>
chen der Schlangenkoͤpfe, die wir hier vor uns haben — entſcheidende Zuͤge der Argliſt und Falſch-<lb/>
heit — herausheben?</p><lb/><p>Freylich nicht ein Zug von <hirendition="#fr">Verſtand</hi>— von uͤberlegender Planmacherey — nicht Ge-<lb/>
daͤchtniß, nicht Vielfaſſung —ſondern die allerbeſchraͤnkteſte Liſt — und die Falſchheit, wie kuͤn-<lb/>
digt ſie ſich an in der Miene voll Verworfenheit!</p><lb/><p>Selber ihre Farbenſpielung und die unerforſchliche Reihung und Windung ihrer Fle-<lb/>
cken — Sie ſcheint ſich als taͤuſchende Zauberey vor ſich ſelber warnend anzukuͤndigen.</p><lb/><p>Unter allen dieſen ſiebenzehn Koͤpfen von groͤßtentheils amerikaniſchen Schlangen — nicht<lb/>
Einer, den man lieb gewinnen, der Vertrauen erwerben koͤnnte — und man idealiſire ſich dieſe<lb/>
Geſichter zu Menſchengeſichtern — wie werden wir zuruͤck beben!</p><lb/><p>Freylich die liſtigſten Menſchen haben groͤßtentheils tiefliegende Augen — die meiſten dieſer<lb/>
Schlangen vorausſtehende — das kuͤndigt Bosheit und Falſchheit der Liſt an. —</p><lb/><p>Das Maul iſt ſo gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeſchnitten —<lb/>
Jch mache keine Anwendung davon; ſie macht ſich ſelber.</p><lb/><p>Alle wahrhaft kraͤftige Menſchen ſind gerade redliche Menſchen. Liſt iſt Erſatz der Kraft.<lb/>
Kraft, (wir reden nicht von der Kraft ihrer feſten Umſchlingung) Kraft, ohne Liſt, gerade vor ſich<lb/>
hin zu wuͤrken — mangelt allen. Sie ſind gebildet —„in die Ferſen zu ſtechen — und zertreten<lb/>„zu werden.“—</p><lb/><p>Das Urtheil Gottes iſt ihnen auf die platte kraftloſe Stirne geſchrieben; iſt in ihrem<lb/>
Munde und Auge zu leſen. —</p><lb/><p>Und ſo das Urtheil Gottes uͤber dich und mich — ob’s gleich wenigen offenbar iſt.</p><lb/><fwtype="catch"place="bottom">Sechstes</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[80/0124]
Fuͤnftes Fragment.
Schlangenkoͤpfe.
Wenn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen koͤnnt, das keine Phyſiogno-
mie hat, deſſen Phyſiognomie ſeinem Charakter nicht entſpricht — ſo ſoll der Menſch
auch keine haben!
Was hat weniger und mehr Phyſiognomie, als die Schlange? Ließen ſich nicht aus man-
chen der Schlangenkoͤpfe, die wir hier vor uns haben — entſcheidende Zuͤge der Argliſt und Falſch-
heit — herausheben?
Freylich nicht ein Zug von Verſtand — von uͤberlegender Planmacherey — nicht Ge-
daͤchtniß, nicht Vielfaſſung — ſondern die allerbeſchraͤnkteſte Liſt — und die Falſchheit, wie kuͤn-
digt ſie ſich an in der Miene voll Verworfenheit!
Selber ihre Farbenſpielung und die unerforſchliche Reihung und Windung ihrer Fle-
cken — Sie ſcheint ſich als taͤuſchende Zauberey vor ſich ſelber warnend anzukuͤndigen.
Unter allen dieſen ſiebenzehn Koͤpfen von groͤßtentheils amerikaniſchen Schlangen — nicht
Einer, den man lieb gewinnen, der Vertrauen erwerben koͤnnte — und man idealiſire ſich dieſe
Geſichter zu Menſchengeſichtern — wie werden wir zuruͤck beben!
Freylich die liſtigſten Menſchen haben groͤßtentheils tiefliegende Augen — die meiſten dieſer
Schlangen vorausſtehende — das kuͤndigt Bosheit und Falſchheit der Liſt an. —
Das Maul iſt ſo gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeſchnitten —
Jch mache keine Anwendung davon; ſie macht ſich ſelber.
Alle wahrhaft kraͤftige Menſchen ſind gerade redliche Menſchen. Liſt iſt Erſatz der Kraft.
Kraft, (wir reden nicht von der Kraft ihrer feſten Umſchlingung) Kraft, ohne Liſt, gerade vor ſich
hin zu wuͤrken — mangelt allen. Sie ſind gebildet — „in die Ferſen zu ſtechen — und zertreten
„zu werden.“ —
Das Urtheil Gottes iſt ihnen auf die platte kraftloſe Stirne geſchrieben; iſt in ihrem
Munde und Auge zu leſen. —
Und ſo das Urtheil Gottes uͤber dich und mich — ob’s gleich wenigen offenbar iſt.
Sechstes
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente03_1777/124>, abgerufen am 02.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.