Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 3. Leipzig u. a., 1777.Fünftes Fragment. Des III. Ban-Schlangenköpfe. des XV. Tafel. Wenn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen könnt, das keine Physiogno- Was hat weniger und mehr Physiognomie, als die Schlange? Ließen sich nicht aus man- Freylich nicht ein Zug von Verstand -- von überlegender Planmacherey -- nicht Ge- Selber ihre Farbenspielung und die unerforschliche Reihung und Windung ihrer Fle- Unter allen diesen siebenzehn Köpfen von größtentheils amerikanischen Schlangen -- nicht Freylich die listigsten Menschen haben größtentheils tiefliegende Augen -- die meisten dieser Das Maul ist so gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeschnitten -- Alle wahrhaft kräftige Menschen sind gerade redliche Menschen. List ist Ersatz der Kraft. Das Urtheil Gottes ist ihnen auf die platte kraftlose Stirne geschrieben; ist in ihrem Und so das Urtheil Gottes über dich und mich -- ob's gleich wenigen offenbar ist. Sechstes
Fuͤnftes Fragment. Des III. Ban-Schlangenkoͤpfe. des XV. Tafel. Wenn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen koͤnnt, das keine Phyſiogno- Was hat weniger und mehr Phyſiognomie, als die Schlange? Ließen ſich nicht aus man- Freylich nicht ein Zug von Verſtand — von uͤberlegender Planmacherey — nicht Ge- Selber ihre Farbenſpielung und die unerforſchliche Reihung und Windung ihrer Fle- Unter allen dieſen ſiebenzehn Koͤpfen von groͤßtentheils amerikaniſchen Schlangen — nicht Freylich die liſtigſten Menſchen haben groͤßtentheils tiefliegende Augen — die meiſten dieſer Das Maul iſt ſo gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeſchnitten — Alle wahrhaft kraͤftige Menſchen ſind gerade redliche Menſchen. Liſt iſt Erſatz der Kraft. Das Urtheil Gottes iſt ihnen auf die platte kraftloſe Stirne geſchrieben; iſt in ihrem Und ſo das Urtheil Gottes uͤber dich und mich — ob’s gleich wenigen offenbar iſt. Sechstes
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0124" n="80"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Fuͤnftes Fragment.<lb/> Schlangenkoͤpfe.</hi> </hi> </head><lb/> <note place="left">Des <hi rendition="#aq">III.</hi> Ban-<lb/> des <hi rendition="#aq">XV.</hi> Tafel.</note> <p><hi rendition="#in">W</hi>enn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen koͤnnt, das keine Phyſiogno-<lb/> mie hat, deſſen Phyſiognomie ſeinem Charakter nicht entſpricht — ſo ſoll der Menſch<lb/> auch keine haben!</p><lb/> <p>Was hat weniger und mehr Phyſiognomie, als die Schlange? Ließen ſich nicht aus man-<lb/> chen der Schlangenkoͤpfe, die wir hier vor uns haben — entſcheidende Zuͤge der Argliſt und Falſch-<lb/> heit — herausheben?</p><lb/> <p>Freylich nicht ein Zug von <hi rendition="#fr">Verſtand</hi> — von uͤberlegender Planmacherey — nicht Ge-<lb/> daͤchtniß, nicht Vielfaſſung — ſondern die allerbeſchraͤnkteſte Liſt — und die Falſchheit, wie kuͤn-<lb/> digt ſie ſich an in der Miene voll Verworfenheit!</p><lb/> <p>Selber ihre Farbenſpielung und die unerforſchliche Reihung und Windung ihrer Fle-<lb/> cken — Sie ſcheint ſich als taͤuſchende Zauberey vor ſich ſelber warnend anzukuͤndigen.</p><lb/> <p>Unter allen dieſen ſiebenzehn Koͤpfen von groͤßtentheils amerikaniſchen Schlangen — nicht<lb/> Einer, den man lieb gewinnen, der Vertrauen erwerben koͤnnte — und man idealiſire ſich dieſe<lb/> Geſichter zu Menſchengeſichtern — wie werden wir zuruͤck beben!</p><lb/> <p>Freylich die liſtigſten Menſchen haben groͤßtentheils tiefliegende Augen — die meiſten dieſer<lb/> Schlangen vorausſtehende — das kuͤndigt Bosheit und Falſchheit der Liſt an. —</p><lb/> <p>Das Maul iſt ſo gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeſchnitten —<lb/> Jch mache keine Anwendung davon; ſie macht ſich ſelber.</p><lb/> <p>Alle wahrhaft kraͤftige Menſchen ſind gerade redliche Menſchen. Liſt iſt Erſatz der Kraft.<lb/> Kraft, (wir reden nicht von der Kraft ihrer feſten Umſchlingung) Kraft, ohne Liſt, gerade vor ſich<lb/> hin zu wuͤrken — mangelt allen. Sie ſind gebildet — „in die Ferſen zu ſtechen — und zertreten<lb/> „zu werden.“ —</p><lb/> <p>Das Urtheil Gottes iſt ihnen auf die platte kraftloſe Stirne geſchrieben; iſt in ihrem<lb/> Munde und Auge zu leſen. —</p><lb/> <p>Und ſo das Urtheil Gottes uͤber dich und mich — ob’s gleich wenigen offenbar iſt.</p><lb/> <fw place="bottom" type="catch">Sechstes</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [80/0124]
Fuͤnftes Fragment.
Schlangenkoͤpfe.
Wenn ihr mir etwas in der unermeßlichen Natur zeigen koͤnnt, das keine Phyſiogno-
mie hat, deſſen Phyſiognomie ſeinem Charakter nicht entſpricht — ſo ſoll der Menſch
auch keine haben!
Was hat weniger und mehr Phyſiognomie, als die Schlange? Ließen ſich nicht aus man-
chen der Schlangenkoͤpfe, die wir hier vor uns haben — entſcheidende Zuͤge der Argliſt und Falſch-
heit — herausheben?
Freylich nicht ein Zug von Verſtand — von uͤberlegender Planmacherey — nicht Ge-
daͤchtniß, nicht Vielfaſſung — ſondern die allerbeſchraͤnkteſte Liſt — und die Falſchheit, wie kuͤn-
digt ſie ſich an in der Miene voll Verworfenheit!
Selber ihre Farbenſpielung und die unerforſchliche Reihung und Windung ihrer Fle-
cken — Sie ſcheint ſich als taͤuſchende Zauberey vor ſich ſelber warnend anzukuͤndigen.
Unter allen dieſen ſiebenzehn Koͤpfen von groͤßtentheils amerikaniſchen Schlangen — nicht
Einer, den man lieb gewinnen, der Vertrauen erwerben koͤnnte — und man idealiſire ſich dieſe
Geſichter zu Menſchengeſichtern — wie werden wir zuruͤck beben!
Freylich die liſtigſten Menſchen haben groͤßtentheils tiefliegende Augen — die meiſten dieſer
Schlangen vorausſtehende — das kuͤndigt Bosheit und Falſchheit der Liſt an. —
Das Maul iſt ſo gerad oder einfach bogigt tief hinters Auge lippenlos fortgeſchnitten —
Jch mache keine Anwendung davon; ſie macht ſich ſelber.
Alle wahrhaft kraͤftige Menſchen ſind gerade redliche Menſchen. Liſt iſt Erſatz der Kraft.
Kraft, (wir reden nicht von der Kraft ihrer feſten Umſchlingung) Kraft, ohne Liſt, gerade vor ſich
hin zu wuͤrken — mangelt allen. Sie ſind gebildet — „in die Ferſen zu ſtechen — und zertreten
„zu werden.“ —
Das Urtheil Gottes iſt ihnen auf die platte kraftloſe Stirne geſchrieben; iſt in ihrem
Munde und Auge zu leſen. —
Und ſo das Urtheil Gottes uͤber dich und mich — ob’s gleich wenigen offenbar iſt.
Sechstes
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |