Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.einiger vermischten besondern Einwendungen gegen die Physiognomik. tet, gewürdigt? Es ist bald gesagt: "Man sieht's ihm nicht an." -- Es wird drauf ankommen,wer dieser Mann sey. VI. Einwendung. "Man sieht äusserst scharfsinnige Leute mit einem nichtsbedeutenden Gesichte." -- Antwort. Das Factum muß bestimmter erwiesen werden. Jch wenigstens habe, nach vielen hundert Fehlschlüssen, zuletzt allemal gefunden, daß ich Jch habe vor vielen Jahren einen großen Mathematiker, das Erstaunen von Europa, Dieß kann zeigen, wie sehr das Urtheil: "der Mann sieht einfältig aus, und hat doch Man schreibt mir von D'Alembert, zur Bestreitung der Physiognomik, daß er die ge- viel G 2
einiger vermiſchten beſondern Einwendungen gegen die Phyſiognomik. tet, gewuͤrdigt? Es iſt bald geſagt: „Man ſieht’s ihm nicht an.“ — Es wird drauf ankommen,wer dieſer Mann ſey. VI. Einwendung. „Man ſieht aͤuſſerſt ſcharfſinnige Leute mit einem nichtsbedeutenden Geſichte.“ — Antwort. Das Factum muß beſtimmter erwieſen werden. Jch wenigſtens habe, nach vielen hundert Fehlſchluͤſſen, zuletzt allemal gefunden, daß ich Jch habe vor vielen Jahren einen großen Mathematiker, das Erſtaunen von Europa, Dieß kann zeigen, wie ſehr das Urtheil: „der Mann ſieht einfaͤltig aus, und hat doch Man ſchreibt mir von D’Alembert, zur Beſtreitung der Phyſiognomik, daß er die ge- viel G 2
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einiger vermiſchten beſondern Einwendungen gegen die Phyſiognomik.
tet, gewuͤrdigt? Es iſt bald geſagt: „Man ſieht’s ihm nicht an.“ — Es wird drauf ankommen,
wer dieſer Mann ſey.
VI. Einwendung.
„Man ſieht aͤuſſerſt ſcharfſinnige Leute mit einem nichtsbedeutenden Geſichte.“ —
Antwort.
Das Factum muß beſtimmter erwieſen werden.
Jch wenigſtens habe, nach vielen hundert Fehlſchluͤſſen, zuletzt allemal gefunden, daß ich
nur nicht recht beobachtet habe. — Jch ſetzte anfangs z. E. die Charaktere von Einer Eigenſchaft
zu ſehr an Eine Stelle, ſuchte ſie anfangs nur da, und fand ſie nicht; wußte ſonſt ganz zuver-
laͤſſig, daß z. E. auſſerordentliche Kraft da war, und konnte den Sitz ihres Charakters lange nicht
finden. Warum? Jch ſucht’ ihn nur an Einem Orte. Dieß geſchah mir beſonders bey ſolchen
Menſchen, die ſich nur in Einem beſondern Fache auszeichneten; — uͤbrigens aber die gemein-
ſten Koͤpfe zu ſeyn ſchienen; Menſchen, deren ganze Seelenkraft auf Ein gewiſſes Feld, einen
beſondern Gegenſtand zielte; oder bey ſolchen, die eine ſehr unbeſtimmte Kraft hatten. Jch
druͤcke mich unrecht aus, eine Kraft, die ſich nie an Etwas recht verſucht und ausgearbeitet hatte.
Jch habe vor vielen Jahren einen großen Mathematiker, das Erſtaunen von Europa,
geſehen, der im erſten Anblicke, und lange nachher, die gemeinſte Phyſiognomie von der Welt
zu haben ſchien. Jch zeichnete ein gutes getroffenes Bild von ihm nach, und ward alſo beſſer
zu beobachten genoͤthigt. Jch fand einen beſondern Zug, der ſeinem Blicke eine eigne Be-
ſtimmung gab, — eine Beſtimmung, die ich erſt einige Jahre nachher an einem andern Him-
mel weit von dieſem verſchiedenen — aber ebenfalls trefflichen Kopf’ entdeckte, der ſonſt auch
eine, alle meine Phyſiognomik irre machende, flache Geſichtsbildung hatte. Seither hab’ ich
dieſen Blick bey keinem Menſchen, wenn er ſonſt auch noch ſo einfaͤltig ſchien, angetroffen, der
nicht irgend was ganz auſſerordentliches hatte.
Dieß kann zeigen, wie ſehr das Urtheil: „der Mann ſieht einfaͤltig aus, und hat doch
„große Geiſteskraft“ — wahr und nicht wahr ſeyn kann.
Man ſchreibt mir von D’Alembert, zur Beſtreitung der Phyſiognomik, daß er die ge-
meinſte Miene von der Welt habe. Jch kann nichts ſagen, bis ich D’Alembert geſehen. So
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