Drittes Fragment. Für Leser -- mit Menschenherzen -- das ist: für alle? Trefflichkeit aller Menschengestalten. Oder, Jn wiefern sich kein Mensch seiner Physiognomie zu schämen habe? Oder, Warnung vor intolerantem Jdealisiren.
Fast kein besonderes Fragment, das ich über Physiognomik schreibe, duldet Ausführlichkeit; weil bey der Menge von Tafeln, bey der Mannichfaltigkeit von Gesichtern, die ich in dieß Werk zusammen zu drängen suche, unaufhörlicher Anlaß ist, alles zu sagen, was man sagen will, und was gesagt werden soll. Aus Besorgniß aber, daß ich das eine und andere, das mir sehr wichtig scheint, dennoch vergessen, oder daß es sich zu sehr verstecken und verlieren möchte -- möcht' ich oft gleichsam nur die Aufschrift eines Fragments, das gemacht werden sollte -- her- setzen, bloß um die Aufmerksamkeit des Lesers ein wenig zu reizen -- und um den Gedanken vorm Untergange zu retten.
Was ich z. E. in der Aufschrift des gegenwärtigen Fragmentes sage -- ist gewissermas- sen wiederum Jnnhalt und Seele des ganzen Buches. -- Was ich also itzt in einem besondern Abschnitte darüber sagen kann, ist so viel als nichts; und dennoch, wie viel kann's, der Würkung nach, seyn für den nachdenkenden! den Menschen!
Jedes Geschöpf ist unentbehrlich in Gottes unermeßlicher Welt; aber nicht jedes weiß, daß es unentbehrlich ist. Auf dem Erdboden freuet sich nur der Mensch seiner Unentbehrlichkeit. --
Kein Glied am menschlichen Körper kann durch irgend ein ander Glied -- ersetzt werden.
So viel vortrefflicher das Auge ist, als der Nagel an der kleinsten Zehe -- der Nagel an der kleinsten Zehe ist dennoch an sich zur Vollkommenheit des ganzen Körpers unentbehrlich, und kann durch das, obgleich viel herrlichere und vollkommenere, Auge, nicht ersetzt werden.
Kein
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Drittes Fragment. Fuͤr Leſer — mit Menſchenherzen — das iſt: fuͤr alle? Trefflichkeit aller Menſchengeſtalten. Oder, Jn wiefern ſich kein Menſch ſeiner Phyſiognomie zu ſchaͤmen habe? Oder, Warnung vor intolerantem Jdealiſiren.
Faſt kein beſonderes Fragment, das ich uͤber Phyſiognomik ſchreibe, duldet Ausfuͤhrlichkeit; weil bey der Menge von Tafeln, bey der Mannichfaltigkeit von Geſichtern, die ich in dieß Werk zuſammen zu draͤngen ſuche, unaufhoͤrlicher Anlaß iſt, alles zu ſagen, was man ſagen will, und was geſagt werden ſoll. Aus Beſorgniß aber, daß ich das eine und andere, das mir ſehr wichtig ſcheint, dennoch vergeſſen, oder daß es ſich zu ſehr verſtecken und verlieren moͤchte — moͤcht’ ich oft gleichſam nur die Aufſchrift eines Fragments, das gemacht werden ſollte — her- ſetzen, bloß um die Aufmerkſamkeit des Leſers ein wenig zu reizen — und um den Gedanken vorm Untergange zu retten.
Was ich z. E. in der Aufſchrift des gegenwaͤrtigen Fragmentes ſage — iſt gewiſſermaſ- ſen wiederum Jnnhalt und Seele des ganzen Buches. — Was ich alſo itzt in einem beſondern Abſchnitte daruͤber ſagen kann, iſt ſo viel als nichts; und dennoch, wie viel kann’s, der Wuͤrkung nach, ſeyn fuͤr den nachdenkenden! den Menſchen!
Jedes Geſchoͤpf iſt unentbehrlich in Gottes unermeßlicher Welt; aber nicht jedes weiß, daß es unentbehrlich iſt. Auf dem Erdboden freuet ſich nur der Menſch ſeiner Unentbehrlichkeit. —
Kein Glied am menſchlichen Koͤrper kann durch irgend ein ander Glied — erſetzt werden.
So viel vortrefflicher das Auge iſt, als der Nagel an der kleinſten Zehe — der Nagel an der kleinſten Zehe iſt dennoch an ſich zur Vollkommenheit des ganzen Koͤrpers unentbehrlich, und kann durch das, obgleich viel herrlichere und vollkommenere, Auge, nicht erſetzt werden.
Kein
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Drittes Fragment.
Fuͤr Leſer — mit Menſchenherzen — das iſt: fuͤr alle?
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Oder,
Warnung vor intolerantem Jdealiſiren.
Faſt kein beſonderes Fragment, das ich uͤber Phyſiognomik ſchreibe, duldet Ausfuͤhrlichkeit;
weil bey der Menge von Tafeln, bey der Mannichfaltigkeit von Geſichtern, die ich in dieß
Werk zuſammen zu draͤngen ſuche, unaufhoͤrlicher Anlaß iſt, alles zu ſagen, was man ſagen will,
und was geſagt werden ſoll. Aus Beſorgniß aber, daß ich das eine und andere, das mir ſehr
wichtig ſcheint, dennoch vergeſſen, oder daß es ſich zu ſehr verſtecken und verlieren moͤchte —
moͤcht’ ich oft gleichſam nur die Aufſchrift eines Fragments, das gemacht werden ſollte — her-
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Was ich z. E. in der Aufſchrift des gegenwaͤrtigen Fragmentes ſage — iſt gewiſſermaſ-
ſen wiederum Jnnhalt und Seele des ganzen Buches. — Was ich alſo itzt in einem beſondern
Abſchnitte daruͤber ſagen kann, iſt ſo viel als nichts; und dennoch, wie viel kann’s, der Wuͤrkung
nach, ſeyn fuͤr den nachdenkenden! den Menſchen!
Jedes Geſchoͤpf iſt unentbehrlich in Gottes unermeßlicher Welt; aber nicht jedes weiß,
daß es unentbehrlich iſt. Auf dem Erdboden freuet ſich nur der Menſch ſeiner Unentbehrlichkeit. —
Kein Glied am menſchlichen Koͤrper kann durch irgend ein ander Glied — erſetzt werden.
So viel vortrefflicher das Auge iſt, als der Nagel an der kleinſten Zehe — der Nagel an
der kleinſten Zehe iſt dennoch an ſich zur Vollkommenheit des ganzen Koͤrpers unentbehrlich, und
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/49>, abgerufen am 23.02.2025.
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