Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.Gelehrte, Denker. Zweyte Tafel. Drey männliche Silhouetten. Der Charakter dieser drey Gesichter ist vermuthlich in mancher Absicht sehr verschieden; aber dar- Der erste ist an dem Munde um ein Haar verschnitten. (Jch traue dem Schattenrisse Der zweyte mir von Person unbekannt, aber nicht unbekannt der Welt. Ein Mann von Der dritte ist der vollkommenste Pendant zu Herrn Meyer auf der vorhergehenden Alle drey, -- mit dem vorhergehenden, Genies, oder lieber, Geister des Details, wenn Dritte Tafel. nach Holbein. Jch weiß nicht, wen dieser Kopf vorstellt. Aber ich ergötze mich an der Natürlichkeit dieser so einfachen Zeichnung. -- Natürlichkeit, o dieß Geheimniß der Kunst, das von berühmten Manieristen so sehr ver- Der Phys. Fragm. II Versuch. Ll
Gelehrte, Denker. Zweyte Tafel. Drey maͤnnliche Silhouetten. Der Charakter dieſer drey Geſichter iſt vermuthlich in mancher Abſicht ſehr verſchieden; aber dar- Der erſte iſt an dem Munde um ein Haar verſchnitten. (Jch traue dem Schattenriſſe Der zweyte mir von Perſon unbekannt, aber nicht unbekannt der Welt. Ein Mann von Der dritte iſt der vollkommenſte Pendant zu Herrn Meyer auf der vorhergehenden Alle drey, — mit dem vorhergehenden, Genies, oder lieber, Geiſter des Details, wenn Dritte Tafel. nach Holbein. Jch weiß nicht, wen dieſer Kopf vorſtellt. Aber ich ergoͤtze mich an der Natuͤrlichkeit dieſer ſo einfachen Zeichnung. — Natuͤrlichkeit, o dieß Geheimniß der Kunſt, das von beruͤhmten Manieriſten ſo ſehr ver- Der Phyſ. Fragm. II Verſuch. Ll
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0467" n="265"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Gelehrte, Denker.</hi> </fw><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#fr"> <hi rendition="#g">Zweyte Tafel.<lb/> Drey maͤnnliche Silhouetten.</hi> </hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>er Charakter dieſer drey Geſichter iſt vermuthlich in mancher Abſicht ſehr verſchieden; aber dar-<lb/> inn kommen ſie dennoch trefflich mit einander uͤberein, daß es drey verſtaͤndige, ſehr ordentliche, ge-<lb/> naue, puͤnktliche Maͤnner ſind. Zween davon kenn’ ich perſoͤnlich. Sie ſind Muſter von Bedaͤcht-<lb/> lichkeit, Ordnungsliebe, Geſchaͤfftsgeſchicklichkeit.</p><lb/> <p>Der <hi rendition="#fr">erſte</hi> iſt an dem Munde um ein Haar verſchnitten. (Jch traue dem Schattenriſſe<lb/> uͤberhaupt nicht die ſchaͤrfſte Genauigkeit zu.) Kein ſpekulatifer Geiſt; aber ein Mann von ſehr<lb/> geſundem, natuͤrlichem Verſtande, voll Demuth und Dienſtgefliſſenheit — und in einem Sinne<lb/><hi rendition="#fr">ehrlich,</hi> wie’s wenige Menſchen von hochgeprieſener Ehrlichkeit ſind.</p><lb/> <p>Der <hi rendition="#fr">zweyte</hi> mir von Perſon unbekannt, aber nicht unbekannt der Welt. Ein Mann von<lb/> Cultur und Geſchmack. Die Stirn, die Naſe, das Kinn, zeigt mehr forſchenden Verſtand, als 1,<lb/> und ich bin uͤberzeugt, wenn die Stirn ohne die Parucke fortgezeichnet worden waͤre; ſie wuͤrde in<lb/> dieſer Abſicht noch viel ſprechender ſeyn. Aber aufmerkſame Bedaͤchtlichkeit; Treue und Fleiß und<lb/> Reinlichkeit in allen Geſchaͤfften, das ſcheinen beyde mit einander gemein zu haben — und wer<lb/> ſieht, bey aller Unaͤhnlichkeit, nicht das Aehnliche dieſer beyden Profile uͤberhaupt?</p><lb/> <p>Der <hi rendition="#fr">dritte</hi> iſt der vollkommenſte Pendant zu Herrn <hi rendition="#fr">Meyer</hi> auf der vorhergehenden<lb/> Platte; derſelbe unermuͤdliche Fleiß, dieſelbe ausgebreitete Genauigkeit im Detail; derſelbe Geiſt<lb/> des Sammelns, Ordnens, Nennens, Beſchreibens, Auseinanderleſens — dieſelbe Gabe alles zu ent-<lb/> wickeln, zu zerlegen, — zu reihen. Eine lebendige Naturgeſchichte.</p><lb/> <p>Alle drey, — mit dem vorhergehenden, <hi rendition="#fr">Genies, oder lieber, Geiſter des Details,</hi> wenn<lb/> ich ſo ſagen darf. Von dem zweyten jedoch getrau’ ich mich nicht, es ſo zuverſichtlich zu entſcheiden,<lb/> wie von den uͤbrigen. —</p> </div><lb/> <div n="3"> <head> <hi rendition="#fr"><hi rendition="#g">Dritte Tafel.</hi> nach Holbein.</hi> </head><lb/> <p><hi rendition="#in">J</hi>ch weiß nicht, wen dieſer Kopf vorſtellt.</p><lb/> <p>Aber ich ergoͤtze mich an der <hi rendition="#fr">Natuͤrlichkeit</hi> dieſer ſo einfachen Zeichnung. —</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Natuͤrlichkeit,</hi> o dieß Geheimniß der Kunſt, das von beruͤhmten Manieriſten ſo ſehr ver-<lb/> achtet wird; das ſie durch einfache Linien ſo ſelten auszudruͤcken wiſſen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Phyſ. Fragm.</hi><hi rendition="#aq">II</hi><hi rendition="#fr">Verſuch.</hi> Ll</fw> <fw place="bottom" type="catch">Der</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [265/0467]
Gelehrte, Denker.
Zweyte Tafel.
Drey maͤnnliche Silhouetten.
Der Charakter dieſer drey Geſichter iſt vermuthlich in mancher Abſicht ſehr verſchieden; aber dar-
inn kommen ſie dennoch trefflich mit einander uͤberein, daß es drey verſtaͤndige, ſehr ordentliche, ge-
naue, puͤnktliche Maͤnner ſind. Zween davon kenn’ ich perſoͤnlich. Sie ſind Muſter von Bedaͤcht-
lichkeit, Ordnungsliebe, Geſchaͤfftsgeſchicklichkeit.
Der erſte iſt an dem Munde um ein Haar verſchnitten. (Jch traue dem Schattenriſſe
uͤberhaupt nicht die ſchaͤrfſte Genauigkeit zu.) Kein ſpekulatifer Geiſt; aber ein Mann von ſehr
geſundem, natuͤrlichem Verſtande, voll Demuth und Dienſtgefliſſenheit — und in einem Sinne
ehrlich, wie’s wenige Menſchen von hochgeprieſener Ehrlichkeit ſind.
Der zweyte mir von Perſon unbekannt, aber nicht unbekannt der Welt. Ein Mann von
Cultur und Geſchmack. Die Stirn, die Naſe, das Kinn, zeigt mehr forſchenden Verſtand, als 1,
und ich bin uͤberzeugt, wenn die Stirn ohne die Parucke fortgezeichnet worden waͤre; ſie wuͤrde in
dieſer Abſicht noch viel ſprechender ſeyn. Aber aufmerkſame Bedaͤchtlichkeit; Treue und Fleiß und
Reinlichkeit in allen Geſchaͤfften, das ſcheinen beyde mit einander gemein zu haben — und wer
ſieht, bey aller Unaͤhnlichkeit, nicht das Aehnliche dieſer beyden Profile uͤberhaupt?
Der dritte iſt der vollkommenſte Pendant zu Herrn Meyer auf der vorhergehenden
Platte; derſelbe unermuͤdliche Fleiß, dieſelbe ausgebreitete Genauigkeit im Detail; derſelbe Geiſt
des Sammelns, Ordnens, Nennens, Beſchreibens, Auseinanderleſens — dieſelbe Gabe alles zu ent-
wickeln, zu zerlegen, — zu reihen. Eine lebendige Naturgeſchichte.
Alle drey, — mit dem vorhergehenden, Genies, oder lieber, Geiſter des Details, wenn
ich ſo ſagen darf. Von dem zweyten jedoch getrau’ ich mich nicht, es ſo zuverſichtlich zu entſcheiden,
wie von den uͤbrigen. —
Dritte Tafel. nach Holbein.
Jch weiß nicht, wen dieſer Kopf vorſtellt.
Aber ich ergoͤtze mich an der Natuͤrlichkeit dieſer ſo einfachen Zeichnung. —
Natuͤrlichkeit, o dieß Geheimniß der Kunſt, das von beruͤhmten Manieriſten ſo ſehr ver-
achtet wird; das ſie durch einfache Linien ſo ſelten auszudruͤcken wiſſen.
Der
Phyſ. Fragm. II Verſuch. Ll
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/467 |
Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/467>, abgerufen am 23.02.2025. |