Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

Bild:
<< vorherige Seite
XXXII. Fragment.
Dritte Tafel. Tiberius.

Ein edler Mann! Mehr unbehaglich und unglücklich, als grimmig und böse. Und ist das
nicht die Grundlage zu vielen Tyrannen?

Ein böser Geist vom Herrn ist über ihm, sein Herz ist gedrängt, schwarze Bilder schwe-
ben vor seiner Stirne, er zieht sie widerstrebend zusammen, will mit dem unmuthigen Herrscher-
blicke die Geisterschaaren vertreiben, es gelingt ihm nicht. Unmuthiges Nachdenken quält ihn.
Vergebens, daß über seinen Augen reiner Verstand wohnen, in lichten Verhältnissen sich weiden
könnte! Sein Blut, schwarz wie sein Haar, färbt ihm alle Vorstellungen nächtlich. Halb grim-
mig hebt sich die Nase; leiser, ängstlicher Trutz ist im gehobenen Munde; scheu und doch fest
ist das ganze Wesen. Man bringe in Gedanken alle Züge zur Ruhe, gieße in seine Adern wenige
Züge besänftigender, belebender, schaffender Frühlingsluft, verdünne sein Blut, und spüle die
Zerstörungsbegier, die von ihm selbst beginnt, ihm aus den Sinnen; so habt ihr ihn zum gros-
sen, edeln, guten Manne wiedergebohren.

Das scheint mir dieses Bild zu sagen. Wer entscheidet, wie viel Aehnlichkeit mit Ti-
beren es habe? Eine tiefe Verborgenheit, die den Hauptzug seines Charakters ausmachte, ist
auch hier ausgedrückt. Allein das getreueste Bild würde kaum den so veränderlichen und seltsam
gemischten Menschen, wie uns Sveton und Tacitus ihn geben, in seiner Fülle darstellen
können.

Vierte und fünfte Tafel. Brutus.*)

Welche Kraft ergreift dich mit diesem Anblicke! Schau die unerschütterliche Gestalt! Die-
sen ausgebildeten Mann, und diesen zusammen geknoteten Drang. Sieh das ewige Bleiben
und Ruhen auf sich selbst. Welche Gewalt und welche Lieblichkeit! Nur der mächtigste und rein-
ste Geist hat diese Bildung ausgewürkt.

Eherner
*) Wer das Original dieser Platte von Westermann
nach Rubens haben kann, lege es zu dieser Betrachtung,
[Spaltenumbruch] und vergleiche es dann physiognomisch mit beyden hier
angefügten!
XXXII. Fragment.
Dritte Tafel. Tiberius.

Ein edler Mann! Mehr unbehaglich und ungluͤcklich, als grimmig und boͤſe. Und iſt das
nicht die Grundlage zu vielen Tyrannen?

Ein boͤſer Geiſt vom Herrn iſt uͤber ihm, ſein Herz iſt gedraͤngt, ſchwarze Bilder ſchwe-
ben vor ſeiner Stirne, er zieht ſie widerſtrebend zuſammen, will mit dem unmuthigen Herrſcher-
blicke die Geiſterſchaaren vertreiben, es gelingt ihm nicht. Unmuthiges Nachdenken quaͤlt ihn.
Vergebens, daß uͤber ſeinen Augen reiner Verſtand wohnen, in lichten Verhaͤltniſſen ſich weiden
koͤnnte! Sein Blut, ſchwarz wie ſein Haar, faͤrbt ihm alle Vorſtellungen naͤchtlich. Halb grim-
mig hebt ſich die Naſe; leiſer, aͤngſtlicher Trutz iſt im gehobenen Munde; ſcheu und doch feſt
iſt das ganze Weſen. Man bringe in Gedanken alle Zuͤge zur Ruhe, gieße in ſeine Adern wenige
Zuͤge beſaͤnftigender, belebender, ſchaffender Fruͤhlingsluft, verduͤnne ſein Blut, und ſpuͤle die
Zerſtoͤrungsbegier, die von ihm ſelbſt beginnt, ihm aus den Sinnen; ſo habt ihr ihn zum groſ-
ſen, edeln, guten Manne wiedergebohren.

Das ſcheint mir dieſes Bild zu ſagen. Wer entſcheidet, wie viel Aehnlichkeit mit Ti-
beren es habe? Eine tiefe Verborgenheit, die den Hauptzug ſeines Charakters ausmachte, iſt
auch hier ausgedruͤckt. Allein das getreueſte Bild wuͤrde kaum den ſo veraͤnderlichen und ſeltſam
gemiſchten Menſchen, wie uns Sveton und Tacitus ihn geben, in ſeiner Fuͤlle darſtellen
koͤnnen.

Vierte und fuͤnfte Tafel. Brutus.*)

Welche Kraft ergreift dich mit dieſem Anblicke! Schau die unerſchuͤtterliche Geſtalt! Die-
ſen ausgebildeten Mann, und dieſen zuſammen geknoteten Drang. Sieh das ewige Bleiben
und Ruhen auf ſich ſelbſt. Welche Gewalt und welche Lieblichkeit! Nur der maͤchtigſte und rein-
ſte Geiſt hat dieſe Bildung ausgewuͤrkt.

Eherner
*) Wer das Original dieſer Platte von Weſtermann
nach Rubens haben kann, lege es zu dieſer Betrachtung,
[Spaltenumbruch] und vergleiche es dann phyſiognomiſch mit beyden hier
angefuͤgten!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0436" n="256"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#aq">XXXII.</hi> <hi rendition="#g">Fragment.</hi> </hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#g"> <hi rendition="#fr">Dritte Tafel.</hi> <hi rendition="#b">Tiberius.</hi> </hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">E</hi>in edler Mann! Mehr unbehaglich und unglu&#x0364;cklich, als grimmig und bo&#x0364;&#x017F;e. Und i&#x017F;t das<lb/>
nicht die Grundlage zu vielen Tyrannen?</p><lb/>
            <p>Ein bo&#x0364;&#x017F;er Gei&#x017F;t vom Herrn i&#x017F;t u&#x0364;ber ihm, &#x017F;ein Herz i&#x017F;t gedra&#x0364;ngt, &#x017F;chwarze Bilder &#x017F;chwe-<lb/>
ben vor &#x017F;einer Stirne, er zieht &#x017F;ie wider&#x017F;trebend zu&#x017F;ammen, will mit dem unmuthigen Herr&#x017F;cher-<lb/>
blicke die Gei&#x017F;ter&#x017F;chaaren vertreiben, es gelingt ihm nicht. Unmuthiges Nachdenken qua&#x0364;lt ihn.<lb/>
Vergebens, daß u&#x0364;ber &#x017F;einen Augen reiner Ver&#x017F;tand wohnen, in lichten Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich weiden<lb/>
ko&#x0364;nnte! Sein Blut, &#x017F;chwarz wie &#x017F;ein Haar, fa&#x0364;rbt ihm alle Vor&#x017F;tellungen na&#x0364;chtlich. Halb grim-<lb/>
mig hebt &#x017F;ich die Na&#x017F;e; lei&#x017F;er, a&#x0364;ng&#x017F;tlicher Trutz i&#x017F;t im gehobenen Munde; &#x017F;cheu und doch fe&#x017F;t<lb/>
i&#x017F;t das ganze We&#x017F;en. Man bringe in Gedanken alle Zu&#x0364;ge zur Ruhe, gieße in &#x017F;eine Adern wenige<lb/>
Zu&#x0364;ge be&#x017F;a&#x0364;nftigender, belebender, &#x017F;chaffender Fru&#x0364;hlingsluft, verdu&#x0364;nne &#x017F;ein Blut, und &#x017F;pu&#x0364;le die<lb/>
Zer&#x017F;to&#x0364;rungsbegier, die von ihm &#x017F;elb&#x017F;t beginnt, ihm aus den Sinnen; &#x017F;o habt ihr ihn zum gro&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, edeln, guten Manne wiedergebohren.</p><lb/>
            <p>Das &#x017F;cheint mir die&#x017F;es Bild zu &#x017F;agen. Wer ent&#x017F;cheidet, wie viel Aehnlichkeit mit Ti-<lb/>
beren es habe? Eine tiefe Verborgenheit, die den Hauptzug &#x017F;eines Charakters ausmachte, i&#x017F;t<lb/>
auch hier ausgedru&#x0364;ckt. Allein das getreue&#x017F;te Bild wu&#x0364;rde kaum den &#x017F;o vera&#x0364;nderlichen und &#x017F;elt&#x017F;am<lb/>
gemi&#x017F;chten Men&#x017F;chen, wie uns <hi rendition="#fr">Sveton</hi> und <hi rendition="#fr">Tacitus</hi> ihn geben, in &#x017F;einer Fu&#x0364;lle dar&#x017F;tellen<lb/>
ko&#x0364;nnen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#g"> <hi rendition="#fr">Vierte und fu&#x0364;nfte Tafel.</hi> <hi rendition="#b">Brutus.</hi> </hi> <note place="foot" n="*)">Wer das Original die&#x017F;er Platte von We&#x017F;termann<lb/>
nach Rubens haben kann, lege es zu die&#x017F;er Betrachtung,<lb/><cb/>
und vergleiche es dann phy&#x017F;iognomi&#x017F;ch mit beyden hier<lb/>
angefu&#x0364;gten!</note>
            </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">W</hi>elche Kraft ergreift dich mit die&#x017F;em Anblicke! Schau die uner&#x017F;chu&#x0364;tterliche Ge&#x017F;talt! Die-<lb/>
&#x017F;en ausgebildeten Mann, und die&#x017F;en zu&#x017F;ammen geknoteten Drang. Sieh das ewige Bleiben<lb/>
und Ruhen auf &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. Welche Gewalt und welche Lieblichkeit! Nur der ma&#x0364;chtig&#x017F;te und rein-<lb/>
&#x017F;te Gei&#x017F;t hat die&#x017F;e Bildung ausgewu&#x0364;rkt.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Eherner</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[256/0436] XXXII. Fragment. Dritte Tafel. Tiberius. Ein edler Mann! Mehr unbehaglich und ungluͤcklich, als grimmig und boͤſe. Und iſt das nicht die Grundlage zu vielen Tyrannen? Ein boͤſer Geiſt vom Herrn iſt uͤber ihm, ſein Herz iſt gedraͤngt, ſchwarze Bilder ſchwe- ben vor ſeiner Stirne, er zieht ſie widerſtrebend zuſammen, will mit dem unmuthigen Herrſcher- blicke die Geiſterſchaaren vertreiben, es gelingt ihm nicht. Unmuthiges Nachdenken quaͤlt ihn. Vergebens, daß uͤber ſeinen Augen reiner Verſtand wohnen, in lichten Verhaͤltniſſen ſich weiden koͤnnte! Sein Blut, ſchwarz wie ſein Haar, faͤrbt ihm alle Vorſtellungen naͤchtlich. Halb grim- mig hebt ſich die Naſe; leiſer, aͤngſtlicher Trutz iſt im gehobenen Munde; ſcheu und doch feſt iſt das ganze Weſen. Man bringe in Gedanken alle Zuͤge zur Ruhe, gieße in ſeine Adern wenige Zuͤge beſaͤnftigender, belebender, ſchaffender Fruͤhlingsluft, verduͤnne ſein Blut, und ſpuͤle die Zerſtoͤrungsbegier, die von ihm ſelbſt beginnt, ihm aus den Sinnen; ſo habt ihr ihn zum groſ- ſen, edeln, guten Manne wiedergebohren. Das ſcheint mir dieſes Bild zu ſagen. Wer entſcheidet, wie viel Aehnlichkeit mit Ti- beren es habe? Eine tiefe Verborgenheit, die den Hauptzug ſeines Charakters ausmachte, iſt auch hier ausgedruͤckt. Allein das getreueſte Bild wuͤrde kaum den ſo veraͤnderlichen und ſeltſam gemiſchten Menſchen, wie uns Sveton und Tacitus ihn geben, in ſeiner Fuͤlle darſtellen koͤnnen. Vierte und fuͤnfte Tafel. Brutus. *) Welche Kraft ergreift dich mit dieſem Anblicke! Schau die unerſchuͤtterliche Geſtalt! Die- ſen ausgebildeten Mann, und dieſen zuſammen geknoteten Drang. Sieh das ewige Bleiben und Ruhen auf ſich ſelbſt. Welche Gewalt und welche Lieblichkeit! Nur der maͤchtigſte und rein- ſte Geiſt hat dieſe Bildung ausgewuͤrkt. Eherner *) Wer das Original dieſer Platte von Weſtermann nach Rubens haben kann, lege es zu dieſer Betrachtung, und vergleiche es dann phyſiognomiſch mit beyden hier angefuͤgten!

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/436
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/436>, abgerufen am 18.12.2024.