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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.

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II. Fragment. Seltenheit
Vier sich sehr ähnliche Umrisse von Kleist.
Dritte Tafel. Kleist.

Die erste Platte enthält 4. Umrisse von einem ziemlich ähnlichen Porträt des berühmten Hel-
den von Kleist; die zweyte -- von einem, durch viele Copien schlechtgewordenen, Jdeal eines
jungen Christus Kopfes.

Da die Verschiedenheit der Kleistischen Köpfe noch etwas merkbarer und leichter zu
finden ist -- als die Verschiedenheit der andern vier, so wollen wir bey der Kleistischen Tafel
den Anfang machen, und die Verschiedenheiten aufsuchen -- beyläufig zugleich was von dem
Ausdrucke dieses Gesichtes überhaupt, und dem Effecte dieser kleinen Verschiedenheiten ein Wort
sagen. Der Leser mag dabey das Maaß seines Beobachtungsgeistes prüfen -- und -- -- o
daß ich hoffen dürfte, dadurch vermehren -- Ein wichtiger, weitreichender -- viel in sich fassen-
der Gewinn! ....

Jeder sieht, auf den ersten Blick, daß dieses vier Umrisse von demselben Kopfe sind;
und von einem gewiß nicht gemeinen Kopfe. Die Aehnlichkeit aller viere ist auffallend. Alle
viere zeigen sogleich einen edeln, beherzten, entschloßnen -- männlichen Mann. Obgleich die Stel-
lung des Kopfes, ob aus Schuld des Mahlers oder des Copisten? etwas gezwungenes hat, und der
schattenlose Umriß allemal an sich von der weichern Natur eine harte Uebersetzung ist -- so ist
dennoch im Ganzen des Gesichtes so viel Feuer, Freyheit, Kraft, -- daß der Charakter desselben
schwerlich zu verkennen ist.

Die Proportion aller Gesichtstheile, die hohe englische Stirn, (ich rede von dem Bilde,
das wir vor uns haben) die offnen, unaufgesperrten, bestimmt gezeichneten, treffenden, stark gebog-
nen Augen, die männlich edle Nase, die gewiß, im Profil anzusehen, voll Ausdruck von Feinheit
und Geschmack gewesen seyn muß -- Selbst der -- in keinem bloßen Umrisse nachahmbare, gewiß
in allen vier Zeichnungen sehr verhölzerte Mund -- Kinn und Hals, wo nicht mit gerechnet,
doch nicht ausgeschlossen, -- alles dieß gewinnt uns für den Mann, den tapfern, geraden, ent-
schloßnen Mann ohne Falsch und Tücke; den Mann, der sprechen und handeln darf, wo gespro-
chen und gehandelt werden soll; den menschenfreundlich thätigen, uneigennützigen -- edeln! Man

rechne
II. Fragment. Seltenheit
Vier ſich ſehr aͤhnliche Umriſſe von Kleiſt.
Dritte Tafel. Kleiſt.

Die erſte Platte enthaͤlt 4. Umriſſe von einem ziemlich aͤhnlichen Portraͤt des beruͤhmten Hel-
den von Kleiſt; die zweyte — von einem, durch viele Copien ſchlechtgewordenen, Jdeal eines
jungen Chriſtus Kopfes.

Da die Verſchiedenheit der Kleiſtiſchen Koͤpfe noch etwas merkbarer und leichter zu
finden iſt — als die Verſchiedenheit der andern vier, ſo wollen wir bey der Kleiſtiſchen Tafel
den Anfang machen, und die Verſchiedenheiten aufſuchen — beylaͤufig zugleich was von dem
Ausdrucke dieſes Geſichtes uͤberhaupt, und dem Effecte dieſer kleinen Verſchiedenheiten ein Wort
ſagen. Der Leſer mag dabey das Maaß ſeines Beobachtungsgeiſtes pruͤfen — und — — o
daß ich hoffen duͤrfte, dadurch vermehren — Ein wichtiger, weitreichender — viel in ſich faſſen-
der Gewinn! ....

Jeder ſieht, auf den erſten Blick, daß dieſes vier Umriſſe von demſelben Kopfe ſind;
und von einem gewiß nicht gemeinen Kopfe. Die Aehnlichkeit aller viere iſt auffallend. Alle
viere zeigen ſogleich einen edeln, beherzten, entſchloßnen — maͤnnlichen Mann. Obgleich die Stel-
lung des Kopfes, ob aus Schuld des Mahlers oder des Copiſten? etwas gezwungenes hat, und der
ſchattenloſe Umriß allemal an ſich von der weichern Natur eine harte Ueberſetzung iſt — ſo iſt
dennoch im Ganzen des Geſichtes ſo viel Feuer, Freyheit, Kraft, — daß der Charakter deſſelben
ſchwerlich zu verkennen iſt.

Die Proportion aller Geſichtstheile, die hohe engliſche Stirn, (ich rede von dem Bilde,
das wir vor uns haben) die offnen, unaufgeſperrten, beſtimmt gezeichneten, treffenden, ſtark gebog-
nen Augen, die maͤnnlich edle Naſe, die gewiß, im Profil anzuſehen, voll Ausdruck von Feinheit
und Geſchmack geweſen ſeyn muß — Selbſt der — in keinem bloßen Umriſſe nachahmbare, gewiß
in allen vier Zeichnungen ſehr verhoͤlzerte Mund — Kinn und Hals, wo nicht mit gerechnet,
doch nicht ausgeſchloſſen, — alles dieß gewinnt uns fuͤr den Mann, den tapfern, geraden, ent-
ſchloßnen Mann ohne Falſch und Tuͤcke; den Mann, der ſprechen und handeln darf, wo geſpro-
chen und gehandelt werden ſoll; den menſchenfreundlich thaͤtigen, uneigennuͤtzigen — edeln! Man

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[18/0036] II. Fragment. Seltenheit Vier ſich ſehr aͤhnliche Umriſſe von Kleiſt. Dritte Tafel. Kleiſt. Die erſte Platte enthaͤlt 4. Umriſſe von einem ziemlich aͤhnlichen Portraͤt des beruͤhmten Hel- den von Kleiſt; die zweyte — von einem, durch viele Copien ſchlechtgewordenen, Jdeal eines jungen Chriſtus Kopfes. Da die Verſchiedenheit der Kleiſtiſchen Koͤpfe noch etwas merkbarer und leichter zu finden iſt — als die Verſchiedenheit der andern vier, ſo wollen wir bey der Kleiſtiſchen Tafel den Anfang machen, und die Verſchiedenheiten aufſuchen — beylaͤufig zugleich was von dem Ausdrucke dieſes Geſichtes uͤberhaupt, und dem Effecte dieſer kleinen Verſchiedenheiten ein Wort ſagen. Der Leſer mag dabey das Maaß ſeines Beobachtungsgeiſtes pruͤfen — und — — o daß ich hoffen duͤrfte, dadurch vermehren — Ein wichtiger, weitreichender — viel in ſich faſſen- der Gewinn! .... Jeder ſieht, auf den erſten Blick, daß dieſes vier Umriſſe von demſelben Kopfe ſind; und von einem gewiß nicht gemeinen Kopfe. Die Aehnlichkeit aller viere iſt auffallend. Alle viere zeigen ſogleich einen edeln, beherzten, entſchloßnen — maͤnnlichen Mann. Obgleich die Stel- lung des Kopfes, ob aus Schuld des Mahlers oder des Copiſten? etwas gezwungenes hat, und der ſchattenloſe Umriß allemal an ſich von der weichern Natur eine harte Ueberſetzung iſt — ſo iſt dennoch im Ganzen des Geſichtes ſo viel Feuer, Freyheit, Kraft, — daß der Charakter deſſelben ſchwerlich zu verkennen iſt. Die Proportion aller Geſichtstheile, die hohe engliſche Stirn, (ich rede von dem Bilde, das wir vor uns haben) die offnen, unaufgeſperrten, beſtimmt gezeichneten, treffenden, ſtark gebog- nen Augen, die maͤnnlich edle Naſe, die gewiß, im Profil anzuſehen, voll Ausdruck von Feinheit und Geſchmack geweſen ſeyn muß — Selbſt der — in keinem bloßen Umriſſe nachahmbare, gewiß in allen vier Zeichnungen ſehr verhoͤlzerte Mund — Kinn und Hals, wo nicht mit gerechnet, doch nicht ausgeſchloſſen, — alles dieß gewinnt uns fuͤr den Mann, den tapfern, geraden, ent- ſchloßnen Mann ohne Falſch und Tuͤcke; den Mann, der ſprechen und handeln darf, wo geſpro- chen und gehandelt werden ſoll; den menſchenfreundlich thaͤtigen, uneigennuͤtzigen — edeln! Man rechne

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente02_1776/36>, abgerufen am 17.11.2024.