Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 2. Leipzig u. a., 1776.des physiognomischen Gefühles. Erste Tafel. Neun Köpfe nach Poußin. Jch nehme nicht eine besonders ausgesuchte Tafel von ganz außerordentlichen Charaktern; -- Jch getraue mir beynahe zu behaupten, daß jeder gesunde Mensch -- ich sage nicht: Also laßt uns, lieber Leser, hier den ersten Versuch machen, wie weit wir neben einan- Starres, staunendes Mitleid eines nicht kraftlosen, nicht schlechten Menschen -- hin- Jm 2. nicht, Ohnmacht -- einer zarten, offnen, nicht unedlen, anmaßungslosen fräuli- Jm 3. -- hinstaunendes Wohlwollen, Hülfsbegier? Mehr Schrecken und weniger That- Jm 4. -- wer nicht unaffectirten, Erbarmen flehenden Schmerz? mit Sehnsucht und Jm 5. -- kalte, rathlose, schreckenvolle, dumme -- Angst? Jm B 2
des phyſiognomiſchen Gefuͤhles. Erſte Tafel. Neun Koͤpfe nach Poußin. Jch nehme nicht eine beſonders ausgeſuchte Tafel von ganz außerordentlichen Charaktern; — Jch getraue mir beynahe zu behaupten, daß jeder geſunde Menſch — ich ſage nicht: Alſo laßt uns, lieber Leſer, hier den erſten Verſuch machen, wie weit wir neben einan- Starres, ſtaunendes Mitleid eines nicht kraftloſen, nicht ſchlechten Menſchen — hin- Jm 2. nicht, Ohnmacht — einer zarten, offnen, nicht unedlen, anmaßungsloſen fraͤuli- Jm 3. — hinſtaunendes Wohlwollen, Huͤlfsbegier? Mehr Schrecken und weniger That- Jm 4. — wer nicht unaffectirten, Erbarmen flehenden Schmerz? mit Sehnſucht und Jm 5. — kalte, rathloſe, ſchreckenvolle, dumme — Angſt? Jm B 2
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des phyſiognomiſchen Gefuͤhles.
Erſte Tafel.
Neun Koͤpfe nach Poußin.
Jch nehme nicht eine beſonders ausgeſuchte Tafel von ganz außerordentlichen Charaktern; —
man haͤtte viel ausgezeichnetere waͤhlen koͤnnen — viel beſtimmtere; aber es iſt beſſer, es an
einer ſolchen zu zeigen, wo die Bedeutungen nicht einmal einfach, nicht beſtimmt, die Zeichnung
ſelbſt mittelmaͤßig, und nichts weniger, als rein charakteriſtiſch iſt.
Jch getraue mir beynahe zu behaupten, daß jeder geſunde Menſch — ich ſage nicht:
von ſelbſt den Charakter dieſer neun (nach Poußin, ſehr mittelmaͤßig copirten) Koͤpfe werde
beſtimmen, oder daß verſchiedene daſſelbe Urtheil daruͤber faͤllen werden; aber das getrau’ ich
mir zu behaupten, daß die meiſten, wo nicht alle — unfehlbar darinn einſtimmen werden, wenn
man ihnen ein richtiges Urtheil daruͤber vorlegen wird. — Wenigſtens hab’ ich das Vergnuͤ-
gen ſehr oft gehabt, zu hoͤren, „daß man zwar ohne Anweiſung, ohne vorgeſprochenes Urtheil
„in manchen Phyſiognomien des erſten Bandes das nicht geſehen haben wuͤrde, was man ſo-
„gleich darinn ſah, ſobald das Urtheil ausgeſprochen ward. —“
Alſo laßt uns, lieber Leſer, hier den erſten Verſuch machen, wie weit wir neben einan-
der fortlaufen koͤnnen.
Starres, ſtaunendes Mitleid eines nicht kraftloſen, nicht ſchlechten Menſchen — hin-
geheftetes ſchreckenvolles Theilnehmen ohne Moͤglichkeit zu helfen abzuſehen — — — Wer ſieht’s
nicht im 1?
Jm 2. nicht, Ohnmacht — einer zarten, offnen, nicht unedlen, anmaßungsloſen fraͤuli-
chen Seele? die vom betaͤubenden Schmerz getroffen hinſinkt, der kraft- und fuͤhllos noch in dem
Munde nachzuckt?
Jm 3. — hinſtaunendes Wohlwollen, Huͤlfsbegier? Mehr Schrecken und weniger That-
kraft, als im erſten?
Jm 4. — wer nicht unaffectirten, Erbarmen flehenden Schmerz? mit Sehnſucht und
Hoffnung?
Jm 5. — kalte, rathloſe, ſchreckenvolle, dumme — Angſt?
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