Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.VI. Fragment. Von dem Bemerken Sechstes Fragment. Von dem Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten überhaupt. Die menschliche Natur ist zugleich vollkommen und unvollkommen; sie ist noch nicht, Unvollkommenheit bleibt indessen uns immer ein unentbehrliches Wort. Unvollkom- vollkom-
VI. Fragment. Von dem Bemerken Sechſtes Fragment. Von dem Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten uͤberhaupt. Die menſchliche Natur iſt zugleich vollkommen und unvollkommen; ſie iſt noch nicht, Unvollkommenheit bleibt indeſſen uns immer ein unentbehrliches Wort. Unvollkom- vollkom-
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VI. Fragment. Von dem Bemerken
Sechſtes Fragment.
Von dem Bemerken der Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten
uͤberhaupt.
Die menſchliche Natur iſt zugleich vollkommen und unvollkommen; ſie iſt noch nicht,
was ſie werden kann, und was ſie ſeyn wird — aber ſie iſt, was ſie in ihrer gegenwaͤrtigen Lage
(alle und jede Beſtimmungsgruͤnde zuſammengenommen) ſeyn kann. Wir koͤnnen ſie nicht rich-
tig — oder vielmehr, wir koͤnnen ſie richtig, aber nur von Einer Seite, nur aus unſerer Lage
und unſerm Geſichtspunkt — der wahrlich nichts als Punkt iſt, beurtheilen. Aus dieſem Ge-
ſichtspunkt erblicken wir an jedem Menſchen Vollkommenheiten und Fehler. Gehen wir auf
Fehler aus; ſo finden wir unzaͤhlige. Suchen wir Vollkommenheiten, ſo finden wir (ſo unbe-
greiflich es manchem vorkommen wird, dreiſte behaupt ichs) an jedem, auch dem fehlervollſten
Menſchen, — ebenfalls unzaͤhlige; — die es vermuthlich in den Augen aller vernuͤnftigen We-
ſen ſind — da ich hingegen zum Theil zweifele — ob alles, was uns fehlerhaft und unvollkom-
men vorkommt, hoͤhern Weſen, die mehrere Verhaͤltniſſe und Verbindungen der menſchlichen Na-
tur wahrnehmen und uͤberſchauen koͤnnen — nicht ganz anders vorkommen muͤſſe. Je mehr
wir die Natur erforſchen (und gehoͤrt der Menſch nicht auch zur Natur? iſt er nicht das vollkom-
menſte, ich mag nicht ſagen: Werk der Natur? Jſt er er nicht die vollkommenſte aller uns durch
die Sinne bekannten Naturen? ‒ ‒ ‒) Je mehr wir die Natur erforſchen, deſtomehr bemerken
wir, Ordnung, Verhaͤltniß, Zweck, wohlthaͤtige Abſicht: und wo das iſt, iſt da nicht
Vollkommenheit? und wo wirs noch nicht ſehen, duͤrfen wirs nicht auf das, was wir ſehen,
glauben? und kann der, der das nicht glaubt, eine Gottheit glauben? Kann die hoͤchſte
Weisheit das geringſte uͤberfluͤßig machen? Die hoͤchſte Macht das geringſte un-
zureichend laſſen? Die hoͤchſte Guͤte die geringſte Disharmonie in dem dulden, was
da iſt?
Unvollkommenheit bleibt indeſſen uns immer ein unentbehrliches Wort. Unvollkom-
menheit bleibt immer in Vergleichung hoͤherer Vollkommenheit — Mangel. Ein Kind iſt ein
vollkom-
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