Nun noch einige Worte von der Gleichgültigkeit gegen die Physiognomik, denn diese und nicht so wohl Verachtung und Haß werden wir bey den meisten Menschen antreffen. Es ist ein Glück für die Welt, daß die wenigsten Menschen zu Beobachtern gebohren sind. Die gütige Vorse- hung hat jedem einen gewissen Trieb gegeben, so oder anders zu handeln, der denn auch einem je- den durch die Welt hilft. Eben dieser innere Trieb kombinirt auch mehr oder weniger die Erfah- rungen, die der Mensch macht, ohne daß er sich dessen gewissermaßen selbst bewußt ist. Jeder hat seinen eigenen Kreis von Wirksamkeit, jeder seine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine gewisse Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog ist, und so wird er nach und nach im Lieben und Hassen auf das festeste bestätigt. Und so ist sein Bedürfniß erfüllt, er empfindet auf das deutlichste, was die Dinge für ein Verhältniß zu ihm haben, und daher kann es ihm einerley seyn, was für ein Verhältniß sie unter einander haben mögen. Er fühlt, daß dieß und jenes so oder so auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es so auf ihn wirkt, vielmehr läßt er sich dadurch auf ein oder die andre Weise bestimmen. Und so begierig der Mensch zu seyn scheint, die wahre Beschaffenheit eines Dings, und die Ursachen seiner Wirkungen zu erkennen, so selten wird's doch bey ihm unüberwindliches Bedürfniß. Wie viel tausend Menschen, selbst die sich einbilden, zu denken und zu untersuchen, beruhigen sich mit einem qui pro quo auf einem ganz beschränkten Gemeinplatze. Also wie der Mensch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß er einen Magen hat, also sieht er, vernimmt er, handelt, und verbindet seine Erfahrungen, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu seyn. Eben so wirken auch die Züge und das Betragen anderer auf ihn, er fühlt, wo er sich nähern oder entfernen soll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder stößt ihn weg, und so bedarf er keiner Untersuchung, keiner Erklärung.
Auch hat ein großer Theil Menschen vor der Physiognomik als einer geheimnißvol- len Wissenschaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hören von einem wunderbaren Physiognomisten mit eben so viel Vergnügen erzählen, als von einem Zauberer oder Tausendkünstler, und obgleich mancher an der Untrüglichkeit seiner Kenntnisse zweifeln mag, so ist doch nicht leicht einer, der nicht was dran wendete, um sich von so einem moralischen Zigeuner die gute Wahrheit sagen zu lassen.
Lassen
D 3
der Verachtung der Phyſiognomik.
Zugabe.
Nun noch einige Worte von der Gleichguͤltigkeit gegen die Phyſiognomik, denn dieſe und nicht ſo wohl Verachtung und Haß werden wir bey den meiſten Menſchen antreffen. Es iſt ein Gluͤck fuͤr die Welt, daß die wenigſten Menſchen zu Beobachtern gebohren ſind. Die guͤtige Vorſe- hung hat jedem einen gewiſſen Trieb gegeben, ſo oder anders zu handeln, der denn auch einem je- den durch die Welt hilft. Eben dieſer innere Trieb kombinirt auch mehr oder weniger die Erfah- rungen, die der Menſch macht, ohne daß er ſich deſſen gewiſſermaßen ſelbſt bewußt iſt. Jeder hat ſeinen eigenen Kreis von Wirkſamkeit, jeder ſeine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine gewiſſe Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog iſt, und ſo wird er nach und nach im Lieben und Haſſen auf das feſteſte beſtaͤtigt. Und ſo iſt ſein Beduͤrfniß erfuͤllt, er empfindet auf das deutlichſte, was die Dinge fuͤr ein Verhaͤltniß zu ihm haben, und daher kann es ihm einerley ſeyn, was fuͤr ein Verhaͤltniß ſie unter einander haben moͤgen. Er fuͤhlt, daß dieß und jenes ſo oder ſo auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es ſo auf ihn wirkt, vielmehr laͤßt er ſich dadurch auf ein oder die andre Weiſe beſtimmen. Und ſo begierig der Menſch zu ſeyn ſcheint, die wahre Beſchaffenheit eines Dings, und die Urſachen ſeiner Wirkungen zu erkennen, ſo ſelten wird's doch bey ihm unuͤberwindliches Beduͤrfniß. Wie viel tauſend Menſchen, ſelbſt die ſich einbilden, zu denken und zu unterſuchen, beruhigen ſich mit einem qui pro quo auf einem ganz beſchraͤnkten Gemeinplatze. Alſo wie der Menſch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß er einen Magen hat, alſo ſieht er, vernimmt er, handelt, und verbindet ſeine Erfahrungen, ohne ſich deſſen eigentlich bewußt zu ſeyn. Eben ſo wirken auch die Zuͤge und das Betragen anderer auf ihn, er fuͤhlt, wo er ſich naͤhern oder entfernen ſoll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder ſtoͤßt ihn weg, und ſo bedarf er keiner Unterſuchung, keiner Erklaͤrung.
Auch hat ein großer Theil Menſchen vor der Phyſiognomik als einer geheimnißvol- len Wiſſenſchaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hoͤren von einem wunderbaren Phyſiognomiſten mit eben ſo viel Vergnuͤgen erzaͤhlen, als von einem Zauberer oder Tauſendkuͤnſtler, und obgleich mancher an der Untruͤglichkeit ſeiner Kenntniſſe zweifeln mag, ſo iſt doch nicht leicht einer, der nicht was dran wendete, um ſich von ſo einem moraliſchen Zigeuner die gute Wahrheit ſagen zu laſſen.
Laſſen
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der Verachtung der Phyſiognomik.
Zugabe.
Nun noch einige Worte von der Gleichguͤltigkeit gegen die Phyſiognomik, denn dieſe und
nicht ſo wohl Verachtung und Haß werden wir bey den meiſten Menſchen antreffen. Es iſt ein
Gluͤck fuͤr die Welt, daß die wenigſten Menſchen zu Beobachtern gebohren ſind. Die guͤtige Vorſe-
hung hat jedem einen gewiſſen Trieb gegeben, ſo oder anders zu handeln, der denn auch einem je-
den durch die Welt hilft. Eben dieſer innere Trieb kombinirt auch mehr oder weniger die Erfah-
rungen, die der Menſch macht, ohne daß er ſich deſſen gewiſſermaßen ſelbſt bewußt iſt. Jeder hat
ſeinen eigenen Kreis von Wirkſamkeit, jeder ſeine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine
gewiſſe Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog iſt, und ſo wird er nach und nach im
Lieben und Haſſen auf das feſteſte beſtaͤtigt. Und ſo iſt ſein Beduͤrfniß erfuͤllt, er empfindet auf
das deutlichſte, was die Dinge fuͤr ein Verhaͤltniß zu ihm haben, und daher kann es ihm einerley
ſeyn, was fuͤr ein Verhaͤltniß ſie unter einander haben moͤgen. Er fuͤhlt, daß dieß und jenes ſo
oder ſo auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es ſo auf ihn wirkt, vielmehr laͤßt er ſich dadurch
auf ein oder die andre Weiſe beſtimmen. Und ſo begierig der Menſch zu ſeyn ſcheint, die wahre
Beſchaffenheit eines Dings, und die Urſachen ſeiner Wirkungen zu erkennen, ſo ſelten wird's doch
bey ihm unuͤberwindliches Beduͤrfniß. Wie viel tauſend Menſchen, ſelbſt die ſich einbilden, zu
denken und zu unterſuchen, beruhigen ſich mit einem qui pro quo auf einem ganz beſchraͤnkten
Gemeinplatze. Alſo wie der Menſch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß er einen
Magen hat, alſo ſieht er, vernimmt er, handelt, und verbindet ſeine Erfahrungen, ohne ſich
deſſen eigentlich bewußt zu ſeyn. Eben ſo wirken auch die Zuͤge und das Betragen anderer
auf ihn, er fuͤhlt, wo er ſich naͤhern oder entfernen ſoll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder ſtoͤßt
ihn weg, und ſo bedarf er keiner Unterſuchung, keiner Erklaͤrung.
Auch hat ein großer Theil Menſchen vor der Phyſiognomik als einer geheimnißvol-
len Wiſſenſchaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hoͤren von einem wunderbaren Phyſiognomiſten
mit eben ſo viel Vergnuͤgen erzaͤhlen, als von einem Zauberer oder Tauſendkuͤnſtler, und obgleich
mancher an der Untruͤglichkeit ſeiner Kenntniſſe zweifeln mag, ſo iſt doch nicht leicht einer, der nicht
was dran wendete, um ſich von ſo einem moraliſchen Zigeuner die gute Wahrheit ſagen zu laſſen.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/45>, abgerufen am 22.02.2025.
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