Eins der sprechendsten und sogleich sich in ihrer ganzen Wahrheit darstellenden Gesichter ist das vorliegende von Heinrich Blatter von Krynau, das zwar sehr kenntlich, aber dennoch in einigen Stücken hinter dem Urbilde zurück ist!
Der muß den Menschen wenig kennen, der die feste Aufmerksamkeit, die diesem Gesichte eigen zu seyn scheint, keiner Aufmerksamkeit würdigt; der die Kälte, die Festigkeit, den unermüdlichen Fleiß, die bis zum Eigensinne gehende Standhaftigkeit, -- und bey diesem allem die bey so viel Scharfsinn seltne Ruhe und Bescheidenheit, nicht alsdann wenigstens wahrnimmt, wenn man ihm das von diesem Gesichte gesagt hat.
Bemerket Theil für Theil, und dann überschaut wieder das Ganze.
Jhr werdet diese Stirne, bey diesem oben so zirkelrunden Schädel, wohl nie bey ei- nem natürlichen Dummkopfe antreffen. Nie diese Augenbraune! Nie, gewiß nie, verlaßt euch sicher drauf, nie dieß herrliche Auge mit diesem Profilumrisse des obern Augenliedes! Mit dieser Sichtbarkeit des innern Augensterns im Profile! Jch will nicht sagen: Nie, aber sehr selten diese gerade bestimmte Nase zusammt dem Mund und Kinne, die, wer sieht's nicht, ohne mein Sagen, freylich nicht die zärtlichste, empfindsamste, aber eine verständige Seele vermu- then lassen.
Jst's nicht, überschaut es nun wieder ganz, ist's nicht offenbar das Gesicht eines Künst- lers, eines mechanischen und mathematischen Genies? Nicht eines schnell und hochemporfliegen- den! Nein -- durchaus nicht, aber einer mit kalter Langsamkeit fortschreitenden, fortarbeiten- den, tief, tief durchgrabenden, mit gleicher Vorsichtigkeit und Unverdrossenheit bis zum Ziele, zum Ziele strebenden -- das Ziel erst umfassenden -- dann übers Ziel zu neuen entdeck- ten Zielen fortspekulirenden, und im Spekuliren hinausgehenden -- Kraft -- Kraft, nicht, wie die, die den Pfeil vom Bogen schnellen läßt; aber Kraft, wie umschloßne Federkraft einer Uhr.
Lieber!
zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
OO. Heinrich Blatter.
Eins der ſprechendſten und ſogleich ſich in ihrer ganzen Wahrheit darſtellenden Geſichter iſt das vorliegende von Heinrich Blatter von Krynau, das zwar ſehr kenntlich, aber dennoch in einigen Stuͤcken hinter dem Urbilde zuruͤck iſt!
Der muß den Menſchen wenig kennen, der die feſte Aufmerkſamkeit, die dieſem Geſichte eigen zu ſeyn ſcheint, keiner Aufmerkſamkeit wuͤrdigt; der die Kaͤlte, die Feſtigkeit, den unermuͤdlichen Fleiß, die bis zum Eigenſinne gehende Standhaftigkeit, — und bey dieſem allem die bey ſo viel Scharfſinn ſeltne Ruhe und Beſcheidenheit, nicht alsdann wenigſtens wahrnimmt, wenn man ihm das von dieſem Geſichte geſagt hat.
Bemerket Theil fuͤr Theil, und dann uͤberſchaut wieder das Ganze.
Jhr werdet dieſe Stirne, bey dieſem oben ſo zirkelrunden Schaͤdel, wohl nie bey ei- nem natuͤrlichen Dummkopfe antreffen. Nie dieſe Augenbraune! Nie, gewiß nie, verlaßt euch ſicher drauf, nie dieß herrliche Auge mit dieſem Profilumriſſe des obern Augenliedes! Mit dieſer Sichtbarkeit des innern Augenſterns im Profile! Jch will nicht ſagen: Nie, aber ſehr ſelten dieſe gerade beſtimmte Naſe zuſammt dem Mund und Kinne, die, wer ſieht's nicht, ohne mein Sagen, freylich nicht die zaͤrtlichſte, empfindſamſte, aber eine verſtaͤndige Seele vermu- then laſſen.
Jſt's nicht, uͤberſchaut es nun wieder ganz, iſt's nicht offenbar das Geſicht eines Kuͤnſt- lers, eines mechaniſchen und mathematiſchen Genies? Nicht eines ſchnell und hochemporfliegen- den! Nein — durchaus nicht, aber einer mit kalter Langſamkeit fortſchreitenden, fortarbeiten- den, tief, tief durchgrabenden, mit gleicher Vorſichtigkeit und Unverdroſſenheit bis zum Ziele, zum Ziele ſtrebenden — das Ziel erſt umfaſſenden — dann uͤbers Ziel zu neuen entdeck- ten Zielen fortſpekulirenden, und im Spekuliren hinausgehenden — Kraft — Kraft, nicht, wie die, die den Pfeil vom Bogen ſchnellen laͤßt; aber Kraft, wie umſchloßne Federkraft einer Uhr.
Lieber!
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zur Pruͤfung des phyſiognomiſchen Genies.
OO.
Heinrich Blatter.
Eins der ſprechendſten und ſogleich ſich in ihrer ganzen Wahrheit darſtellenden Geſichter iſt
das vorliegende von Heinrich Blatter von Krynau, das zwar ſehr kenntlich, aber dennoch in
einigen Stuͤcken hinter dem Urbilde zuruͤck iſt!
Der muß den Menſchen wenig kennen, der die feſte Aufmerkſamkeit, die dieſem
Geſichte eigen zu ſeyn ſcheint, keiner Aufmerkſamkeit wuͤrdigt; der die Kaͤlte, die Feſtigkeit,
den unermuͤdlichen Fleiß, die bis zum Eigenſinne gehende Standhaftigkeit, — und bey dieſem
allem die bey ſo viel Scharfſinn ſeltne Ruhe und Beſcheidenheit, nicht alsdann wenigſtens
wahrnimmt, wenn man ihm das von dieſem Geſichte geſagt hat.
Bemerket Theil fuͤr Theil, und dann uͤberſchaut wieder das Ganze.
Jhr werdet dieſe Stirne, bey dieſem oben ſo zirkelrunden Schaͤdel, wohl nie bey ei-
nem natuͤrlichen Dummkopfe antreffen. Nie dieſe Augenbraune! Nie, gewiß nie, verlaßt
euch ſicher drauf, nie dieß herrliche Auge mit dieſem Profilumriſſe des obern Augenliedes! Mit
dieſer Sichtbarkeit des innern Augenſterns im Profile! Jch will nicht ſagen: Nie, aber ſehr
ſelten dieſe gerade beſtimmte Naſe zuſammt dem Mund und Kinne, die, wer ſieht's nicht, ohne
mein Sagen, freylich nicht die zaͤrtlichſte, empfindſamſte, aber eine verſtaͤndige Seele vermu-
then laſſen.
Jſt's nicht, uͤberſchaut es nun wieder ganz, iſt's nicht offenbar das Geſicht eines Kuͤnſt-
lers, eines mechaniſchen und mathematiſchen Genies? Nicht eines ſchnell und hochemporfliegen-
den! Nein — durchaus nicht, aber einer mit kalter Langſamkeit fortſchreitenden, fortarbeiten-
den, tief, tief durchgrabenden, mit gleicher Vorſichtigkeit und Unverdroſſenheit bis zum
Ziele, zum Ziele ſtrebenden — das Ziel erſt umfaſſenden — dann uͤbers Ziel zu neuen entdeck-
ten Zielen fortſpekulirenden, und im Spekuliren hinausgehenden — Kraft — Kraft, nicht,
wie die, die den Pfeil vom Bogen ſchnellen laͤßt; aber Kraft, wie umſchloßne Federkraft
einer Uhr.
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/421>, abgerufen am 22.02.2025.
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