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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XVII. Fragment. Phyſiognomiſche Uebungen
E.
Vier Silhouetten.

Alle dieſe vier Silhouetten ſind von ganz außerordentlichen Menſchen. Drey davon ſind beyna-
he ohne Cultur. Die vierte kennen wir ſchon, denn es iſt eben dieſelbe mit der in der letztvorher-
gehenden Vignette.

Die erſte hat etwas Unbiegſames und bisweilen Trotziges. Nicht im Munde ſollſt du's
ſuchen, denn der iſt im Kupfer zu ſehr beſchnitten worden. Wo mag der Ausdruck dieſer Unbieg-
ſamkeit ſeyn? Sie hat dabey ausnehmenden Verſtand, und ein recht gefaͤlliges, gutes, dankbares
Herz. Entſetzliche Kraft und Ohnmacht in beſtaͤndigem Streit — iſt ihr wahrer Character.
Ausdruck der erſtern glaub' ich in der Stirne, der letztern im Untertheil des Geſichtes zu bemerken.

Die zweyte Silhouette — iſt eine zur Schwermuth, und eingezogenſten Stille ver-
woͤhnte, unbekannte, ſehr guͤtige, fromme Seele von großem Verſtande, erſtaunlicher Empfind-
lichkeit, und die all' ihre Kraft zu innerm Leiden, wie eine duͤrftige Wittwe Holz zu Flam-
men, zuſammenrafft. Noch nie hab ich ſie heiter, noch nie — ſich in ihrer unausſprechlichen
Guͤte fuͤhlend geſehen. Sehr verſchloſſen, — und dennoch die aufrichtigſte Seele. O koͤnnte
ich ihr Ruh ins Herz — predigen; denn das iſt noch die Sprache, die ſie am meiſten ver-
ſteht; am liebſten hoͤrt — So ſehr ſie ganz Ohr iſt; ſie hoͤrt nur, was wider ſie, nicht was
fuͤr ſie iſt. Sie wuͤrde ihr Leben fuͤr den unbekannteſten Menſchen aufopfern, und klagt immer
uͤber Mangel der Liebe. Sie hat kein Leiden, als wenn ihr Anlaß und Kraft fehlt, Gutes zu
thun — Sie thut's, wo ſie's kann, und dennoch waͤhnt ſie nichts zu thun. Kennte ſie mehr die
menſchliche Natur; haͤtte ſie mehr Umgang mit Menſchen; — wuͤrde ſie Staͤrke des Geiſtes genug
haben, zu ſehen, daß die alleredelſten Seelen ſchwach, und die unſchuldigſten Menſchen — Men-
ſchen ſind. Bis aufs Unterkinn halt ich das fuͤr ein treffliches Profil. Das Unterkinn zeigt in
dieſem Geſicht einigen Hang zur Traͤgheit.

Von der dritten waͤr' ein Buch zu ſchreiben. Die allerſtillſte, erhabenſte und freyſte Seele!
So ſtillerhaben und erhabener noch, als die vorige, aber ſo frey und ſtark wie moͤglich! Jn der
aͤußerſten Demuth ſich dennoch ganz fuͤhlend. Voll des kuͤhnſten Muths in der Tiefe der Seele!
Feſt in ſich verſchloſſen, nur blitzweiſe hervorleuchtend. Ohne Cultur voll des ſicherſten unbeſtech-
lichſten Geſchmacks! unerſaͤttlich im ſtillen Forſchen! Feindinn alles Geraͤuſches und dennoch in der
unbegreiflichſten Aktivitaͤt. Verachtend alles, was nicht das Edelſte, Schoͤnſte, Goͤttlichſte iſt,
und im Kleinſten, Veraͤchtlichſten — Gott erblickend, Gott findend, Gott anbethend —

Die

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/270>, abgerufen am 05.01.2025.