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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Zugabe.

Eine Einwendung berühr ich noch in dieser Zugabe, wodurch man vermuthlich die Schwierigkeit
der Physiognomik sehr vergrößern, und die gewiß sehr oft wiederholt werden wird.

"Jeder Mensch, sagt man, ist so sehr von dem andern verschieden, daß nicht nur kein Ge-
"sicht dem andern, sondern selbst kein Theil desselben, keine Nase, kein Ohr, kein Auge dem an-
"dern völlig gleich gefunden wird; mithin sey alle Klassifikation unmöglich. Es giebt in den
"Classen die größte Unbestimmtheit, Verworrenheit, Unzuverläßigkeit -- Hiemit ist's nichts mit
"der Physiognomik."

Diese Einwendung hält man für sehr wichtig -- und wie unbedeutend wird sie, so bald
man bedenkt: "daß eben dieselbe Einwendung alle und jede menschliche Wissenschaften, alles Wiß-
"bare trifft, mithin durch alle andere Wissenschaften schon beantwortet ist." -- Hat es nicht eben
dieselbe Bewandniß mit allen und jeden Dingen, und mit allen Prädikaten aller Dinge? Jst
nicht jedes Ding, ja jegliches Prädikat eines jeden Dinges von dem andern Dinge, ja von demsel-
ben Prädikate des andern Dinges wieder verschieden?

Das allerhandgreiflichste und simpelste Beyspiel ist ja die körperliche Größe oder Lei-
beslänge.

Offenbar ist kein Mensch genau so groß, wie der andere.

Wer wird dieß aber nun als eine Einwendung gegen alle brauchbare und wahre Classifi-
kation
der Menschen nach ihrer Größe ansehen? -- Wer wird z. B. um deswillen die Wahrheit
und Brauchbarkeit der Eintheilung in die fünf Classen der Zwerge, der Kleinen, der Mittlern,
der Großen, der Riesen -- läugnen?

Wer hat sich je aus diesen Gründen gegen die Arzneywissenschaft auflehnen dürfen? oder
wider die Lehre von der Verschiedenheit der Krankheiten? Und es verhält sich ja auch mit den
Krankheiten eben so, wie mit allen Dingen! Keine einzige in keinem Jndividuum ist genau so be-
schaffen, wie in dem andern. Und wehe dem Arzte, der, ohne seine physiologische, oder pathologische
Physiognomik zu brauchen, ich meyne, ohne in jedem Falle sein feines physiognomisches Gefühl zu
Rathe zu ziehen, seinen Beobachtungsgeist walten zu lassen, jede Krankheit blos nach der Klasse

behan-
XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten
Zugabe.

Eine Einwendung beruͤhr ich noch in dieſer Zugabe, wodurch man vermuthlich die Schwierigkeit
der Phyſiognomik ſehr vergroͤßern, und die gewiß ſehr oft wiederholt werden wird.

„Jeder Menſch, ſagt man, iſt ſo ſehr von dem andern verſchieden, daß nicht nur kein Ge-
„ſicht dem andern, ſondern ſelbſt kein Theil deſſelben, keine Naſe, kein Ohr, kein Auge dem an-
„dern voͤllig gleich gefunden wird; mithin ſey alle Klaſſifikation unmoͤglich. Es giebt in den
„Claſſen die groͤßte Unbeſtimmtheit, Verworrenheit, Unzuverlaͤßigkeit — Hiemit iſt's nichts mit
„der Phyſiognomik.“

Dieſe Einwendung haͤlt man fuͤr ſehr wichtig — und wie unbedeutend wird ſie, ſo bald
man bedenkt: „daß eben dieſelbe Einwendung alle und jede menſchliche Wiſſenſchaften, alles Wiß-
„bare trifft, mithin durch alle andere Wiſſenſchaften ſchon beantwortet iſt.“ — Hat es nicht eben
dieſelbe Bewandniß mit allen und jeden Dingen, und mit allen Praͤdikaten aller Dinge? Jſt
nicht jedes Ding, ja jegliches Praͤdikat eines jeden Dinges von dem andern Dinge, ja von demſel-
ben Praͤdikate des andern Dinges wieder verſchieden?

Das allerhandgreiflichſte und ſimpelſte Beyſpiel iſt ja die koͤrperliche Groͤße oder Lei-
beslaͤnge.

Offenbar iſt kein Menſch genau ſo groß, wie der andere.

Wer wird dieß aber nun als eine Einwendung gegen alle brauchbare und wahre Claſſifi-
kation
der Menſchen nach ihrer Groͤße anſehen? — Wer wird z. B. um deswillen die Wahrheit
und Brauchbarkeit der Eintheilung in die fuͤnf Claſſen der Zwerge, der Kleinen, der Mittlern,
der Großen, der Rieſen — laͤugnen?

Wer hat ſich je aus dieſen Gruͤnden gegen die Arzneywiſſenſchaft auflehnen duͤrfen? oder
wider die Lehre von der Verſchiedenheit der Krankheiten? Und es verhaͤlt ſich ja auch mit den
Krankheiten eben ſo, wie mit allen Dingen! Keine einzige in keinem Jndividuum iſt genau ſo be-
ſchaffen, wie in dem andern. Und wehe dem Arzte, der, ohne ſeine phyſiologiſche, oder pathologiſche
Phyſiognomik zu brauchen, ich meyne, ohne in jedem Falle ſein feines phyſiognomiſches Gefuͤhl zu
Rathe zu ziehen, ſeinen Beobachtungsgeiſt walten zu laſſen, jede Krankheit blos nach der Klaſſe

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[148/0216] XI. Fragment. Von einigen Schwierigkeiten Zugabe. Eine Einwendung beruͤhr ich noch in dieſer Zugabe, wodurch man vermuthlich die Schwierigkeit der Phyſiognomik ſehr vergroͤßern, und die gewiß ſehr oft wiederholt werden wird. „Jeder Menſch, ſagt man, iſt ſo ſehr von dem andern verſchieden, daß nicht nur kein Ge- „ſicht dem andern, ſondern ſelbſt kein Theil deſſelben, keine Naſe, kein Ohr, kein Auge dem an- „dern voͤllig gleich gefunden wird; mithin ſey alle Klaſſifikation unmoͤglich. Es giebt in den „Claſſen die groͤßte Unbeſtimmtheit, Verworrenheit, Unzuverlaͤßigkeit — Hiemit iſt's nichts mit „der Phyſiognomik.“ Dieſe Einwendung haͤlt man fuͤr ſehr wichtig — und wie unbedeutend wird ſie, ſo bald man bedenkt: „daß eben dieſelbe Einwendung alle und jede menſchliche Wiſſenſchaften, alles Wiß- „bare trifft, mithin durch alle andere Wiſſenſchaften ſchon beantwortet iſt.“ — Hat es nicht eben dieſelbe Bewandniß mit allen und jeden Dingen, und mit allen Praͤdikaten aller Dinge? Jſt nicht jedes Ding, ja jegliches Praͤdikat eines jeden Dinges von dem andern Dinge, ja von demſel- ben Praͤdikate des andern Dinges wieder verſchieden? Das allerhandgreiflichſte und ſimpelſte Beyſpiel iſt ja die koͤrperliche Groͤße oder Lei- beslaͤnge. Offenbar iſt kein Menſch genau ſo groß, wie der andere. Wer wird dieß aber nun als eine Einwendung gegen alle brauchbare und wahre Claſſifi- kation der Menſchen nach ihrer Groͤße anſehen? — Wer wird z. B. um deswillen die Wahrheit und Brauchbarkeit der Eintheilung in die fuͤnf Claſſen der Zwerge, der Kleinen, der Mittlern, der Großen, der Rieſen — laͤugnen? Wer hat ſich je aus dieſen Gruͤnden gegen die Arzneywiſſenſchaft auflehnen duͤrfen? oder wider die Lehre von der Verſchiedenheit der Krankheiten? Und es verhaͤlt ſich ja auch mit den Krankheiten eben ſo, wie mit allen Dingen! Keine einzige in keinem Jndividuum iſt genau ſo be- ſchaffen, wie in dem andern. Und wehe dem Arzte, der, ohne ſeine phyſiologiſche, oder pathologiſche Phyſiognomik zu brauchen, ich meyne, ohne in jedem Falle ſein feines phyſiognomiſches Gefuͤhl zu Rathe zu ziehen, ſeinen Beobachtungsgeiſt walten zu laſſen, jede Krankheit blos nach der Klaſſe behan-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/216>, abgerufen am 21.11.2024.