Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.X. Fragment. Von den oft nur scheinbaren Zehentes Fragment. Von den oft nur scheinbaren Fehlschlüssen des Physiognomisten. Eine der stärksten Einwendungen gegen die Zuverläßigkeit der Physiognomik ist -- die be- Es ist der Mühe werth, dieser Einwendung einige Anmerkungen entgegen zu setzen. Jch setze voraus, daß in derselben viel Wahres sey, aber ich werde versuchen, mit "Zugegeben also -- der Physiognomist fehlt sehr oft -- das ist -- seine unvollkom- Aus einigen Fehlschlüssen auch nur gegen die Einsicht des Physiognomisten schließen, Wer oft spielt, wird freylich öfter verliehren, als der nie spielt. Wer gewohnt ist, auf Freylich
X. Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren Zehentes Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten. Eine der ſtaͤrkſten Einwendungen gegen die Zuverlaͤßigkeit der Phyſiognomik iſt — die be- Es iſt der Muͤhe werth, dieſer Einwendung einige Anmerkungen entgegen zu ſetzen. Jch ſetze voraus, daß in derſelben viel Wahres ſey, aber ich werde verſuchen, mit „Zugegeben alſo — der Phyſiognomiſt fehlt ſehr oft — das iſt — ſeine unvollkom- Aus einigen Fehlſchluͤſſen auch nur gegen die Einſicht des Phyſiognomiſten ſchließen, Wer oft ſpielt, wird freylich oͤfter verliehren, als der nie ſpielt. Wer gewohnt iſt, auf Freylich
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X. Fragment. Von den oft nur ſcheinbaren
Zehentes Fragment.
Von den oft nur ſcheinbaren Fehlſchluͤſſen des Phyſiognomiſten.
Eine der ſtaͤrkſten Einwendungen gegen die Zuverlaͤßigkeit der Phyſiognomik iſt — die be-
ſten Phyſiognomiſten urtheilen oft aͤußerſt unrichtig.
Es iſt der Muͤhe werth, dieſer Einwendung einige Anmerkungen entgegen zu ſetzen.
Jch ſetze voraus, daß in derſelben viel Wahres ſey, aber ich werde verſuchen, mit
Wenigem zu zeigen, daß der Phyſiognomiſt ſehr oft zu fehlen ſcheinen kann, und je beſſer er
iſt — ſcheinen muß — obgleich er ſehr richtig urtheilt.
„Zugegeben alſo — der Phyſiognomiſt fehlt ſehr oft — das iſt — ſeine unvollkom-
„mene ſubjective Einſicht betruͤgt ihn, nicht aber die objective Phyſiognomie“ — Von den haͤu-
figen Fehlſchluͤſſen und unrichtigen Urtheilen des Phyſiognomiſten gegen die Zuverlaͤßigkeit der
Phyſiognomik uͤberhaupt ſchließen, heißt behaupten: „Es giebt keine Vernunft, weil jeder
„Vernuͤnftige oft unvernuͤnftig handelt.“
Aus einigen Fehlſchluͤſſen auch nur gegen die Einſicht des Phyſiognomiſten ſchließen,
heißt ſo ſchließen: „Der Mann hat einige Gedaͤchtnißfehler gemacht — folglich hat er kein
„Gedaͤchtniß, oder doch gewiß ein ſchwaches?“ — Nicht ſo gewiß! Erſt muͤßt ihr wiſſen,
wie oft ihm ſein Gedaͤchtniß getreu geweſen? und in welchem Verhaͤltniſſe ſeine zehen Fehler
gegen die Treffer ſind, ſonſt koͤnnet ihr ihm groß Unrecht thun. Der Geizige giebt wohl auch
zehnmal. Jſt er darum ſchon großmuͤthig? fragt erſt: „Wie vielmehr haͤtte er geben ſollen
„und koͤnnen, und hat nicht gegeben?“ „Der Tugendhafte kann ſich wohl zehnmal uͤberei-
„len — fragt erſt, eh ihr ihn verurtheilt: Jn wie viel hundert Faͤllen hat er rechtſchaffen
„gehandelt?“
Wer oft ſpielt, wird freylich oͤfter verliehren, als der nie ſpielt. Wer gewohnt iſt, auf
dem Eiſe zu gehen, wird dennoch manchmal fallen, und dem ruhig von dem Geſtade her Zu-
ſehenden Stoff zum Lachen genug geben. Wer vielen Armen Gutes thut, der wird leicht
auch ſolchen Gutes thun, die man durchaus zur Claſſe der Unwuͤrdigen rechnen wird. —
Freylich
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