Zwölfte Zugabe. Ueber die Adieux de Calas von Chodowiecki.
Zuerst ein Wort über den Kunstcharacter des Herrn Daniel Chodowiecki in Berlin. Dieser treffliche Künstler, dem ich so vieles zu danken habe, ist einer der treusten und aufmerksamsten Schüler der Natur. Seine Zeichnungen alle, schmeicheln sich durch ihre leichte athmende Na- türlichkeit jedem Auge ein. Unter so vielen bekannten Mahlern ist er beynahe der einzige, der nie blos akademische Figuren liefert; nie unhandelnde Repräsentanten handelnder Wesen! Bildsäulen in der Situation eines lebenden oder handelnden Wesens! Historische Stücke, im Grunde nur eine Bildsäulengallerie, ein Cabinet von guten Statuen; beynah ist er der ein- zige, der fast allen seinen Figuren die volle ungehemmte Freyheit, die dem Leben eigen ist, einzuhauchen weiß.
Jch halte die adieux de Calas von Chodowiecki, für eines der herrlichsten, natürlich- sten, kräftigsten Stücke, das ich in meinem Leben gesehen. Welche alles beherrschende Wahr- heit! welche Natürlichkeit! welche Zusammensetzung! welche Festigkeit ohne Schärfe! welche Zartheit ohne Kleinmeisterey! welche Bedeutung im Ganzen und in einzelnen Theilen! welcher Contrast in den Charactern, und welche Einheit und Harmonie im Ganzen! und immer und im- mer Wahrheit -- und immer Natur, und solche Wahrheit, solche Natur, daß man sich nicht ei- nen Augenblick kann einfallen lassen, daß der Auftritt, daß die Zusammensetzung, irgend eine einzige Person, oder der geringste Umstand erdichtet sey -- Nichts übertrieben! alles Poesie, und nicht ein Schimmer von Poesie -- Jhr vergeßt das Bild, und seht, und seht nicht: Jhr seyd da -- im Gefängniß der leidenden Unschuld! Jhr weint mit; ihr möchtet ihr um den Hals fallen: Jhr möchtet mit ihr, ihr möchtet für sie sterben! Aber unter allen Trefflichkeiten dieses trefflichen Stückes ist doch nichts, wie der Greis, und die ohnmächtig und sprachlos an ihn sich lehnende Tochter! Jch habe diese Parthey besonders copieren, vergrößern, und stechen lassen -- um mit einigen meiner Leser -- einige Augenblicke wehmüthiger Wollust zu theilen -- Aber die Copie -- hat zum Theil verloren! zum Theil gewonnen! Sehet sie, diese herzdurch- dringende Gruppe! Auch die Copie zeigt uns immer noch genug im Angesichte des Greises von
der
IX.Fragment. 12. Zugabe. Von der Harmonie
Zwoͤlfte Zugabe. Ueber die Adieux de Calas von Chodowiecki.
Zuerſt ein Wort uͤber den Kunſtcharacter des Herrn Daniel Chodowiecki in Berlin. Dieſer treffliche Kuͤnſtler, dem ich ſo vieles zu danken habe, iſt einer der treuſten und aufmerkſamſten Schuͤler der Natur. Seine Zeichnungen alle, ſchmeicheln ſich durch ihre leichte athmende Na- tuͤrlichkeit jedem Auge ein. Unter ſo vielen bekannten Mahlern iſt er beynahe der einzige, der nie blos akademiſche Figuren liefert; nie unhandelnde Repraͤſentanten handelnder Weſen! Bildſaͤulen in der Situation eines lebenden oder handelnden Weſens! Hiſtoriſche Stuͤcke, im Grunde nur eine Bildſaͤulengallerie, ein Cabinet von guten Statuen; beynah iſt er der ein- zige, der faſt allen ſeinen Figuren die volle ungehemmte Freyheit, die dem Leben eigen iſt, einzuhauchen weiß.
Jch halte die adieux de Calas von Chodowiecki, fuͤr eines der herrlichſten, natuͤrlich- ſten, kraͤftigſten Stuͤcke, das ich in meinem Leben geſehen. Welche alles beherrſchende Wahr- heit! welche Natuͤrlichkeit! welche Zuſammenſetzung! welche Feſtigkeit ohne Schaͤrfe! welche Zartheit ohne Kleinmeiſterey! welche Bedeutung im Ganzen und in einzelnen Theilen! welcher Contraſt in den Charactern, und welche Einheit und Harmonie im Ganzen! und immer und im- mer Wahrheit — und immer Natur, und ſolche Wahrheit, ſolche Natur, daß man ſich nicht ei- nen Augenblick kann einfallen laſſen, daß der Auftritt, daß die Zuſammenſetzung, irgend eine einzige Perſon, oder der geringſte Umſtand erdichtet ſey — Nichts uͤbertrieben! alles Poeſie, und nicht ein Schimmer von Poeſie — Jhr vergeßt das Bild, und ſeht, und ſeht nicht: Jhr ſeyd da — im Gefaͤngniß der leidenden Unſchuld! Jhr weint mit; ihr moͤchtet ihr um den Hals fallen: Jhr moͤchtet mit ihr, ihr moͤchtet fuͤr ſie ſterben! Aber unter allen Trefflichkeiten dieſes trefflichen Stuͤckes iſt doch nichts, wie der Greis, und die ohnmaͤchtig und ſprachlos an ihn ſich lehnende Tochter! Jch habe dieſe Parthey beſonders copieren, vergroͤßern, und ſtechen laſſen — um mit einigen meiner Leſer — einige Augenblicke wehmuͤthiger Wolluſt zu theilen — Aber die Copie — hat zum Theil verloren! zum Theil gewonnen! Sehet ſie, dieſe herzdurch- dringende Gruppe! Auch die Copie zeigt uns immer noch genug im Angeſichte des Greiſes von
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IX. Fragment. 12. Zugabe. Von der Harmonie
Zwoͤlfte Zugabe.
Ueber die Adieux de Calas von Chodowiecki.
Zuerſt ein Wort uͤber den Kunſtcharacter des Herrn Daniel Chodowiecki in Berlin. Dieſer
treffliche Kuͤnſtler, dem ich ſo vieles zu danken habe, iſt einer der treuſten und aufmerkſamſten
Schuͤler der Natur. Seine Zeichnungen alle, ſchmeicheln ſich durch ihre leichte athmende Na-
tuͤrlichkeit jedem Auge ein. Unter ſo vielen bekannten Mahlern iſt er beynahe der einzige, der
nie blos akademiſche Figuren liefert; nie unhandelnde Repraͤſentanten handelnder Weſen!
Bildſaͤulen in der Situation eines lebenden oder handelnden Weſens! Hiſtoriſche Stuͤcke, im
Grunde nur eine Bildſaͤulengallerie, ein Cabinet von guten Statuen; beynah iſt er der ein-
zige, der faſt allen ſeinen Figuren die volle ungehemmte Freyheit, die dem Leben eigen iſt,
einzuhauchen weiß.
Jch halte die adieux de Calas von Chodowiecki, fuͤr eines der herrlichſten, natuͤrlich-
ſten, kraͤftigſten Stuͤcke, das ich in meinem Leben geſehen. Welche alles beherrſchende Wahr-
heit! welche Natuͤrlichkeit! welche Zuſammenſetzung! welche Feſtigkeit ohne Schaͤrfe! welche
Zartheit ohne Kleinmeiſterey! welche Bedeutung im Ganzen und in einzelnen Theilen! welcher
Contraſt in den Charactern, und welche Einheit und Harmonie im Ganzen! und immer und im-
mer Wahrheit — und immer Natur, und ſolche Wahrheit, ſolche Natur, daß man ſich nicht ei-
nen Augenblick kann einfallen laſſen, daß der Auftritt, daß die Zuſammenſetzung, irgend eine
einzige Perſon, oder der geringſte Umſtand erdichtet ſey — Nichts uͤbertrieben! alles Poeſie,
und nicht ein Schimmer von Poeſie — Jhr vergeßt das Bild, und ſeht, und ſeht nicht:
Jhr ſeyd da — im Gefaͤngniß der leidenden Unſchuld! Jhr weint mit; ihr moͤchtet ihr um den
Hals fallen: Jhr moͤchtet mit ihr, ihr moͤchtet fuͤr ſie ſterben! Aber unter allen Trefflichkeiten
dieſes trefflichen Stuͤckes iſt doch nichts, wie der Greis, und die ohnmaͤchtig und ſprachlos an
ihn ſich lehnende Tochter! Jch habe dieſe Parthey beſonders copieren, vergroͤßern, und ſtechen
laſſen — um mit einigen meiner Leſer — einige Augenblicke wehmuͤthiger Wolluſt zu theilen —
Aber die Copie — hat zum Theil verloren! zum Theil gewonnen! Sehet ſie, dieſe herzdurch-
dringende Gruppe! Auch die Copie zeigt uns immer noch genug im Angeſichte des Greiſes von
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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/160>, abgerufen am 22.02.2025.
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