Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.IX. Fragment. 6. Zugabe. Von der Harmonie Sechste Zugabe. Greuel der Trunkenheit nach Hogarth. VII. Tafel. "Wo heulet man? wo schreyet man? wo ist Gezänke? wo ist Klage? wo Wunden und Roußeau führt seinen Aemil, -- und der vorige König in Preußen seinen Kronprinzen Ein Staat, wo man alle Jahre einmal die vertrunkenen Mißgestalten von Menschen Nichts verunstaltet den Menschen so sehr, als das Laster! Feste, donnernde Siehe das Blatt an -- und laß deiner Empfindung den Lauf! -- wie tief sinkt der Wie *) Prov. XXIII. 29 -- 34.
IX. Fragment. 6. Zugabe. Von der Harmonie Sechſte Zugabe. Greuel der Trunkenheit nach Hogarth. VII. Tafel. „Wo heulet man? wo ſchreyet man? wo iſt Gezaͤnke? wo iſt Klage? wo Wunden und Roußeau fuͤhrt ſeinen Aemil, — und der vorige Koͤnig in Preußen ſeinen Kronprinzen Ein Staat, wo man alle Jahre einmal die vertrunkenen Mißgeſtalten von Menſchen Nichts verunſtaltet den Menſchen ſo ſehr, als das Laſter! Feſte, donnernde Siehe das Blatt an — und laß deiner Empfindung den Lauf! — wie tief ſinkt der Wie *) Prov. XXIII. 29 — 34.
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IX. Fragment. 6. Zugabe. Von der Harmonie
Sechſte Zugabe.
Greuel der Trunkenheit nach Hogarth.
VII. Tafel.
„Wo heulet man? wo ſchreyet man? wo iſt Gezaͤnke? wo iſt Klage? wo Wunden und
„rothe Augen? Bey denen, die ſich bey dem Wein aufhalten, und kommen dem, was einge-
„ſchenkt iſt, nachzufragen. Beſchau den Wein nicht, wie er roth-ſey, und ſeine Farbe in dem
„Becher ſpiele: Er gehet wohl glatt hinein; aber ſein Letztes wird beißen, wie eine Schlange,
„und ſtechen, wie ein Baſilisk. Alsdann werden deine Augen nach fremden Weibern ſehen,
„und dein Herz wird verkehrte Dinge reden; und du wirſt ſeyn, als wenn du mitten auf dem
„Meere ſchliefeſt, und oben auf dem Maſtbaum laͤgeſt.“ *)
Roußeau fuͤhrt ſeinen Aemil, — und der vorige Koͤnig in Preußen ſeinen Kronprinzen
in ein Siechenhaus, um durch die ſichtbaren Folgen der Unzucht vor Unzucht zu warnen —
Ein Staat, wo man alle Jahre einmal die vertrunkenen Mißgeſtalten von Menſchen
in Proceßion mit einem Gemaͤlde nach Hogarth, wie das nachſtehende iſt, herumfuͤhrte — ſollte
dieß nicht mehr als alle Predigten gegen die Trunkenheit wirken?
Nichts verunſtaltet den Menſchen ſo ſehr, als das Laſter! Feſte, donnernde
Wahrheit! Nichts verſchoͤnert den Menſchen ſo ſehr, als die Tugend! Feſte, herrliche
Wahrheit! — Der Hauptinnhalt, die Seele meines Werks! wenn dieß nicht empfunden wird,
dieſe Empfindung nichts wirkt, ſo wuͤnſcht' ich, keine phyſiognomiſche Zeile geſchrieben zu haben.
Siehe das Blatt an — und laß deiner Empfindung den Lauf! — wie tief ſinkt der
Menſch unter die Menſchen, der ein Held iſt, Wein zu ſaufen! wie erniedrigt er ſich zum Tho-
ren! zum Boͤſewicht, zum Hunde! wie ſchief, wie ekelhaft, wie laͤcherlich nnd abſcheulich, wie
leichtſinnig und frech! wie raſend und ohnmaͤchtig wird er zugleich! welche allgemeine Erſchlaffung
und Nervenloſigkeit! welcher ſeichte Spott und Schwindelgeiſt! welche allgenugſame Leerheit be-
maͤchtiget ſich ſeiner! — welche Hoͤlle von Geſellſchaft erblickſt du hier — Siehe! empfind! urthei-
le! — wie, wie koͤnnten ſolche Geſtalten Buͤrger des Reichs Gottes ſeyn! — wie unertraͤglich muͤß-
ten ſie einem Menſchen, wie unertraͤglich ihnen ein Menſch ſeyn, der auch nur wie der Wernerſche
Chriſtus in der Vignette eines vorgehenden Blattes ausſaͤhe!
Wie
*) Prov. XXIII. 29 — 34.
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Zitationshilfe: | Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/132>, abgerufen am 22.02.2025. |